Puppenrache
sah Sara an. »Aber… jetzt hab ich ja ein bisschen nette Gesellschaft.«
Sara lächelte und dachte mit schlechtem Gewissen an den Revolver in ihrer Jacke.
»Tja, dann fahr ich wohl besser mal!« Chris nickte Sara zu.
»Danke«, sagte sie, »dass du mich… hergefahren hast.«
»Gern geschehen. Alex hat gesagt, dass du bleiben kannst, solange du willst.« Chris lächelte, aber er wirkte ein wenig zögerlich. »Also, Alex, pass auf sie auf!«, sagte er noch und ging los.
»Versprochen.«
»Vielleicht…«, fing Sara an und er wandte sich zu ihr um. »Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.«
»Ja«, sagte er, »ja, vielleicht.« Er lächelte ihr zu, drehte sich dann um und ging zum Auto.
»Lass dich nicht erwischen!«, rief Alex ihm nach.
Chris hob die Hand, stieg ein, wendete, hupte und fuhr weg. Eine Wolke aus rotem Sand vernebelte die Sicht, und als sie sich gelegt hatte, war das Auto nur noch ein winziger dunkler Punkt, der schließlich in einem Tal verschwand.
Jetzt erst wandte Sara sich um und bemerkte, dass auch Alex ihm nachgesehen hatte.
»Ich hasse Abschiede«, sagte Alex. »Komm, ich zeig dir, wo du wohnen kannst, und dann mach ich uns einen Kaffee.«
Die ganze Nacht hatte er wach gelegen. Gegrübelt, was er tun könnte. Wo sie sein könnte. Dann war ihm ein Gedanke gekommen. Etwas hatte ihn daran gehindert, es schon früher zu versuchen. Und jetzt wusste er plötzlich, was es gewesen war: Angst vor einer Wahrheit, die ihn schockieren würde. Aber inzwischen war ihm klar geworden, dass die Wahrheit nicht schlimmer als seine Fantasien sein konnte. Er musste der Wahrheit ins Gesicht sehen. Er brauchte Gewissheit.
Es war halb neun morgens. Die perfekte Zeit.
Die Nummer kannte er auswendig. So oft hatte er sie schon auf dem Telefondisplay angestarrt, so oft hatte er in der Nacht von den Ziffern geträumt. Endlich hörte er auf, im Zimmer auf und ab zu laufen, ließ sich auf die Couch fallen, fuhr sein Notebook hoch, rief die Seite Brisbane Yellow Pages auf und trug unter der Rubrik Telefonnummer die Ziffern ein. Anschließend klickte er auf Search.
Die Sekunden kamen ihm wie eine Ewigkeit vor, bis die Meldung Wilson Highschool erschien.
Eine Schule? Hatte sich vielleicht eine gleichaltrige Freundin als Tante ausgegeben? Unlogisch! Sie hätte doch einfach sagen können, ich bin eine Freundin von Sara.
Er überlegte weiter. Die Stimme hatte nicht ganz jung geklungen. War die Tante vielleicht Lehrerin an der Schule? Aber wieso war sie dann am Apparat, als er angerufen hatte? Als Lehrerin saß sie normalerweise nicht am Telefon. Und sie hatte sich auch nicht mit dem Namen der Schule gemeldet, sondern bloß Hallo gesagt. Er betrachtete die Nummer erneut. Vielleicht eine Zweigstelle? Oder eine Verwaltungskraft. Er nahm den Hörer und wählte. Es tutete viermal, dann wurde abgehoben.
»Hallo?«
Eine andere Stimme, definitiv.
»Entschuldigen Sie, mit wem spreche ich?«, fragte Stephen.
»Julie Edwards, Wilson Highschool.«
»Da bin ich jetzt mit einer Nebenstelle verbunden, richtig?«
»Ja, Sie sprechen mit der Verwaltung. Mit wem wollten Sie denn sprechen?«
»Ach, ich habe einen Anruf von einer Kollegin bekommen, von derselben Nummer, aber ich erinnere mich nicht mehr, wie sie heißt.«
»Wann haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Vorgestern…«
»Vorgestern… warten Sie, das war der Dienstag. Dann haben Sie mit Nora Cummings gesprochen. Sie ist immer dienstags und donnerstags da. Ich montags, mittwochs und freitags.«
»Vielen Dank, dann rufe ich am Donnerstag noch mal an.«
»Warten Sie, vielleicht kann ich Ihnen helf. . .« Doch er legte einfach auf. Nora Cummings. Endlich hatte er einen Namen.
Er schnappte sich seinen Laptop und tippte Cummings, Nora in die Suchmaske. Diesmal suchte er nicht nach einem Namen, sondern nach einer Nummer zu einem Namen. Er fand fünfundzwanzig Einträge unter Cummings. Zwölf hatten andere, männliche Vornamen oder der Vorname war mit einem Buchstaben abgekürzt. Er konnte noch nicht einmal diese zwölf aussortieren, denn einer von ihnen könnte ja auch Noras Ehemann sein. Oder ihr Vater oder ihre Mutter oder wer weiß was noch. So kam er nicht weiter. Er überlegte. Wenn er sich heute Nacht auf den Weg machte, könnte er morgen zu Schulbeginn vor der Wilson Highschool in Brisbane sein.
Mit einem gestohlenen Auto durch die Gegend zu fahren, machte ihm nicht gerade ein gutes Gefühl. Aber er musste zurück in die Stadt, dort erst könnte er es irgendwo
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