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Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
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vorbei, der einstigen Yaojing-Mittelschule, die er während der Kulturrevolution besucht hatte. Jetzt war es keine Schule mehr, sondern ein Restaurant, das sich Red Mansion nannte – vielleicht ein dezenter Hinweis auf den Luxus im Traum der Roten Kammer.
    Am Bund zog ein leichter Wind über die Kaimauern, geschwängert von den typischen Tang- und Hafengerüchen, die Chen von Shanghai kannte. Noch zu dieser späten Stunde war der Bund bevölkert von Liebespaaren, die Hand in Hand dahinschlenderten oder auch, unbeweglich wie Statuen, in der Nacht saßen.
    Vor 1949 hatte man Shanghai »die Stadt ohne Nacht« genannt und den Bund »die Falten eines farbenfrohen Gürtels«.
    An der Waibai-Brücke blieb er stehen. Das Wasser roch nach Dieselöl und Industriemüll, doch war es hier nicht ganz so schwarz, sondern betupft mit den schimmernden Reflexen der Neonlichter. Chen lehnte sich an das Geländer und sah hinunter in das stille Wasser. Ein Schleppdampfer näherte sich dem Brückenbogen.
    Chen versuchte, die Gedankenfülle in seinem Kopf zu ordnen.
    Er war überwältigt, auch wenn er es gegenüber Wang nicht zugegeben hatte. Nicht der Fall hatte ihn überwältigt, sondern die Politik.
    Deng Xiaoping hatte in dem Versuch, die Reformen zu beschleunigen, einige junge Parteifunktionäre, sogenannte »Reformer«, durch die vorzeitige Pensionierung alter Kader befördert. Für die höchste Kaderebene bedeutete diese Politik keine Gefahr, aber für die unteren alten Kader stellte sie ein ernstes Problem dar. Daher hatten einige von ihnen sich zum Kampf gegen die Reformen verbündet. Nach dem ereignisreichen Sommer 1989 mußte Deng diese alten Kader, ob pensioniert oder nicht, dadurch besänftigen, daß er ihren früheren Einfluß einigermaßen wiederherstellte. Ein sorgfältig austariertes Gleichgewicht war gefunden worden, und in der Parteizeitung spielte nun die neue Parole von der »politischen Stabilität« eine sehr wichtige Rolle.
    Aber dieses Gleichgewicht war labil. Mißtrauisch beäugte die alte Garde jeden Schritt der Reformer. Und die Ermittlungen gegen Wu wurden als Angriff gegen die alten Kader gedeutet. Wu hatte diese Deutung bei bestimmten Leuten in Peking propagiert. Bei den Beziehungen seiner Familie war es nicht allzuschwer für ihn, die gewünschte Reaktion zu bewirken. Und die Reaktion war erfolgt: durch das Büro der Disziplinarkommission. Durch Parteisekretär Li. Durch die Innere Sicherheit.
    Die Stellung eines alten hohen Kaders wie Wu Bing, der bewußtlos unter seiner Sauerstoffmaske im Krankenhaus lag, mußte unangetastet bleiben, ebenso seine Villa, sein Auto und selbstverständlich seine Kinder.
    Wenn Chen daran festhielt, diesen Fall auf seine Weise zu behandeln, würde es sein letzter sein.
    Vielleicht konnte er noch aussteigen.
    Vielleicht war es bereits zu spät.
    Wenn man einmal auf einer schwarzen Liste stand, gab es keine Rettung.
    Wie weit würde Parteisekretär Li mit seiner Protektion Chens gehen?
    Wahrscheinlich nicht weit; denn Chens Sturz würde Li mitreißen. Er war überzeugt, daß sich Li als ein mit allen Wassern gewaschener Politiker nicht auf die Seite eines Verlierers stellen würde.
    Schon wurde ein »Fall«gegen Chen konstruiert. Ein Fall, der den Fall Wu Xiaoming vertuschen sollte. Was mochte ihn erwarten?
    Jahre der »Umerziehung durch Arbeit« in einem Lager der Provinz Qinghai, in einer dunklen Zelle, oder sogar eine Kugel in den Hinterkopf. Vielleicht war es zu dramatisch, sich schon jetzt solche Szenarien auszumalen; aber daß er aus dem Polizeidienst entlassen würde, dessen war Chen sich sicher.
    Die Lage war verzweifelt. Wang hatte ihn zu warnen versucht.
    Die Nachtluft am Bund war lind und süß.
    Hinter ihm, schräg gegenüber auf der anderen Seite der Zhongshan Dongyüu, stand das Hotel Peace, das Dach mit schwarzen und roten Zinnen geziert. Er hatte einmal davon geträumt, dort einen Abend in der Jazzbar zu verbringen, in Wangs Gesellschaft, daß die Musiker am Klavier, an den Hörnern und Trommeln ihr Bestes gäben und die Kellner, eine gestärkte Serviette über dem Unterarm, Bloody Marys, Manhattans und Black Russians servieren würden …
    Jetzt würden er und Wang dazu nie mehr Gelegenheit haben.
    Trotzdem war ihm um Wang nicht bange. Sie war attraktiv, jung und klug und hatte ihre eigenen Beziehungen. Letztlich würde sie doch zu ihrem Paß und Visum kommen und ein Flugzeug nach Japan besteigen. Ihr Entschluß, wegzugehen, mochte sich als richtig erweisen. Die

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