Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
Vom Netzwerk:
Zukunft Chinas konnte niemand vorhersagen.
    Ihn fröstelte, als auf einmal die große Uhr des Zollamts begann, eine neue Melodie zu schlagen. Er kannte sie nicht, aber sie gefiel ihm.
    In seiner Mittelschulzeit hatte sie eine andere Melodie gespielt, eine Weise, die dem Vorsitzenden Mao gewidmet war: »Der Osten ist rot. «
    So änderten sich die Zeiten.
    Vor zweitausendfünfhundert Jahren hatte Konfuzius gesagt: »Die Zeit verfließt wie das Wasser im Fluß.«
    Chen atmete in tiefen Zügen die Luft der Sommernacht ein, als kämpfe er sich aus einer reißenden Strömung heraus. Dann verließ er den Bund und steuerte das Hauptpostamt an.
    In der Suzhou Beilu gelegen, war das Amt rund um die Uhr geöffnet. Am Eingang saß sogar um diese späte Stunde noch ein Pförtner. Chen nickte ihm kurz zu. In der geräumigen Halle standen mehrere Tische aus Eichenholz, an denen man schreiben konnte, aber nur wenige Menschen saßen da und warteten vor eine Reihe von Kabinen auf ihre Ferngespräche.
    Er wählte einen Platz an einem der langen Tische und begann, einen Bogen Papier mit dem Briefkopf des Präsidiums zu beschreiben. Das war es, was er brauchte. Es sollte nicht persönlich aussehen. Dies war eine ernste Angelegenheit im Interesse der Partei, dachte er.
    Sobald er angefangen hatte zu schreiben, schienen ihm die Worte zu seinem Erstaunen wie von selbst in die Feder zu fließen. Nur einmal hielt er inne, um ein Plakat an der Wand zu studieren. Es erinnerte ihn an ein anderes, das er viele Jahre vorher gesehen hatte – ein schwarzer Vogel, der über dem Horizont schwebte und eine orangefarbene Sonne auf dem Rücken trug. Darunter nur zwei kurze Zeilen: »Was kommen soll, / Wird kommen.«
    Die Zeit ist ein Vogel, / Sie eilt, und sie verweilt.
    Als er fertig war, nahm er einen Briefumschlag für Einschreiben und fragte einen gähnenden Beamten hinter dem Schalter: »Was kostet ein Einschreiben nach Peking?«
    »Acht Yuan.«
    »Gut«, sagte Chen. Das war die Sache wert. Der Brief in seiner Hand war vielleicht seine letzte Trumpfkarte. Er war kein Spieler, aber er mußte sie ausspielen. Freilich mochte ihr Wert nach all den Jahren auch nur in seiner Einbildung existieren. Vielleicht doch mehr der Strohhalm, nach dem der Ertrinkende greift, dachte Chen.
    Die Uhr schlug gerade zwei, als er aus dem Hauptpostamt kam. Wieder nickte er kurz dem Pförtner zu, der noch immer reglos am Tor saß. Der Mann sah nicht einmal auf.
    Rückblickend betrachtet, waren viele seiner Entscheidungen, wichtige wie belanglose, ein Fehler gewesen, wie er sich eingestand. Aber just die Kombination dieser Entscheidungen hatte ihn zu dem gemacht, was er war. Im Augenblick ein Oberinspektor, den man vom Dienst suspendiert hatte (allerdings noch nicht offiziell) und dessen politische Zukunft praktisch erledigt war. Aber wenigstens hatte er versucht, ehrlich und gewissenhaft seine Arbeit zu tun.
    Ob auch der Brief nach Peking ein Fehler gewesen war, wußte er noch nicht. Er pfiff jetzt ein Lied, das er vor Jahren gelernt hatte: Den Traum von gestern hat der Wind verweht, /Der Wind von gestern träumt noch seinen Traum …

 
    30
     
    ES WAR FREITAG, Spätnachmittag. Hauptwachtmeister Yu saß noch an seinem Schreibtisch und starrte auf den Aktenstapel der Spezialabteilung.
    Oberinspektor Chen war nicht in seinem Büro, weil er als Dolmetscher und Reiseführer einer amerikanischen Schriftstellerdelegation fungieren mußte. Diesen unerwarteten Auftrag hatte ihm einen Tag zuvor Parteisekretär Li erteilt. Als ausgewiesener Schriftsteller und Übersetzer war Chen zum Vertreter des chinesischen Schriftstellerverbandes auserkoren worden.
    Die Mitteilung war so plötzlich gekommen, daß Yu kaum noch Zeit gehabt hatte, mit Chen Informationen auszutauschen. Am ersten Tag nach Chens Rückkehr aus Guangzhou hatten sie einander verfehlt. Und am Morgen des zweiten Tages hatte Yu eben das Großraumbüro betreten, als Chen seinen neuen Auftrag erhielt und praktisch sofort zum Flughafen mußte.
    Vordergründig betrachtet, war der Auftrag kein ganz schlechtes Zeichen. Er konnte sogar bedeuten, daß das Parteimitglied Chen noch das Vertrauen der Führung genoß. Trotzdem war Yu besorgt. Seit dem Krebsessen hatte er in Chen nicht nur einen Freund, sondern auch einen Verbündeten. Der Alte Jäger hatte Yu von den Hindernissen erzählt, auf die die Ermittlungen gestoßen waren, und von den Problemen, in denen Chen steckte. Und am Nachmittag hatte auch Yu ein Gespräch mit

Weitere Kostenlose Bücher