Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Qiu Xiaolong

Qiu Xiaolong

Titel: Qiu Xiaolong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tod einer roten Heldin
Vom Netzwerk:
und erhob sich.
    »Ich kann nicht nachvollziehen, warum Sie sich so an diesem Fall festbeißen«, sagte der Parteisekretär, als Chen ging.
    Das konnte Oberinspektor Chen auch nicht.
    Nicht einmal, als er wieder in seiner Wohnung war und auf dem ganzen Heimweg darüber nachgedacht hatte. Er machte das Licht an und ließ sich in den Sessel fallen. Das Zimmer sah kahl und schäbig aus, absolut leer und trostlos.
    Er wußte, daß er nicht würde einschlafen können, aber nach einem ereignisreichen Tag tat es gut, sich aufs Bett zu legen. Als er zu den Schatten hochblickte, die über die Decke huschten, wurde er von Einsamkeit überwältigt. Gelegentlich genoß er einen Hauch von Einsamkeit mitten in der Nacht. Doch ihn erschütterte mehr als ein melancholisches Gefühl des Alleinseins. Es war, als würde seine Daseinsberechtigung in Frage gestellt.
    Guan mußte ebenfalls solche einsamen Augenblicke durchlebt haben. Als Frau mußte sie, allein in ihrem zellenähnlichen Wohnheimzimmer, noch mehr Druck aushalten.
    Er stand auf, ging ins Bad und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Sosehr er sich auch bemühte, den Fall mit den Augen von Parteisekretär Li zu sehen, seine Gedanken wanderten wieder zu Guan.
    Ihrer beider Karrieren waren – zumindest in den Augen anderer – reibungslos und erfolgreich verlaufen. Man hatte sie auf Stellen befördert, die für Menschen ihres Alters normalerweise unerreichbar waren. Wie Überseechinese Lu festgestellt hatte, war Chen der Glücksgöttin in den Schoß gefallen. Der Neid einiger seiner Kollegen war verständlich. Neid war vielleicht auch die Ursache für Guans Unbeliebtheit bei ihren Nachbarn.
    Eine erfolgreiche politische Karriere half wenig bei der Bewältigung des persönlichen Lebens eines Menschen. Im Gegenteil, sie konnte sich als problematisch erweisen. Besonders im heutigen China. Parteimitglied zu sein bedeutete laut der Satzung der Partei, die Treue zur Partei über alles zu stellen, was für eine potentielle Ehefrau nicht eben attraktiv war. Ein potentieller Ehemann würde eher eine Frau vorziehen, die die Treue zu ihm über alles stellte und die sich mit ganzem Herzen ihrer Familie widmete.
    Erfolg auf der politischen Ebene konnte das Privatleben auf vielfältige Weise erschweren. Chen wußte das aus eigener Erfahrung. Als unverheirateter Oberinspektor Mitte Dreißig wurde er ständig beobachtet. Er mußte seiner offiziellen Rolle entsprechen. Vielleicht war das einer der Gründe dafür, daß er alleinstehend geblieben war. So war es möglicherweise auch bei Guan gewesen.
    Aber es war keine Nacht, um sentimental zu sein. Chen versuchte erneut, die Dinge aus Lis Sicht zu sehen. Er mußte zugeben, daß an Lis Argument etwas dran war. Nach all den mit politischen Turbulenzen vergeudeten Jahren machte China endlich große Fortschritte bei der Wirtschaftsreform. Da das Bruttoinlandsprodukt jährlich um eine zweistellige Zahl wuchs, ging es den Menschen allmählich besser. Auch ein gewisses Maß an Demokratie wurde jetzt eingeführt. In solch einem historischen Augenblick war »politische Stabilität« – ein Ausdruck, der sich nach dem tragischen Sommer von 1989 großer Beliebtheit erfreute – vielleicht unabdingbar für weitere Fortschritte. Die unangefochtene Autorität der Partei war jetzt wichtiger denn je.
    Die Ermittlungen mußten eingestellt werden, ehe die politische Autorität der Partei beschädigt wurde.
    Aber was war mit dem Opfer?
    Gut, Guan hatte im Interesse der Partei gelebt. Es schien nur folgerichtig zu sein, daß sie auch im Interesse der Partei gestorben war.

 
    29
     
    ER WACHTE AUF, weil das Telefon läutete. »Hallo?«
    »Ich bin’s, Wang Feng. Ich weiß, es ist spät, aber ich muß Sie sehen.«
    Wangs angstvolle Stimme klang ganz nah, wie aus dem Nebenzimmer, und doch wie aus weiter Ferne.
    »Ist irgend etwas passiert? Beruhigen Sie sich, Wang«, sagte er. »Wo sind Sie denn?«
    Er sah auf die Uhr. Halb eins. Mit einem solchen Anruf hatte er nicht gerechnet. Nicht von ihr und nicht um diese Zeit.
    »Ich bin in der Telefonzelle auf der anderen Straßenseite.«
    »Wo?«
    »Sie können sie vom Fenster aus sehen.«
    »Warum kommen Sie dann nicht herauf?«
    Es gab eine Telefonzelle an der Straßenecke, eine neue Einrichtung, wo die Leute Münzen einwerfen oder eine Karte hineinstecken konnten, um zu telefonieren.
    »Nein, kommen Sie lieber herunter.«
    »Also gut, ich bin gleich da.«
    Seit jener Nacht hatte er Wang nicht mehr gesehen. Es war

Weitere Kostenlose Bücher