Qiu Xiaolong
Rückschlüsse auf den Geschmack seines Besitzers erlaubte, eher schmucklos eingerichtet war. Hinter einem Mahagonitisch konnte man durch eine Balkontür auf den Rasen und die blühenden Bäume sehen.
»Das ist das Arbeitszimmer meines Vaters«, sagte Wu. »Er ist im Krankenhaus, wissen Sie.«
Yu hatte das Bild des alten Mannes in den Zeitungen gesehen, ein zerfurchtes, empfindsames Gesicht mit hohem Nasenbein.
Wu trommelte mit den Fingern leicht auf den Tisch und saß dabei bequem in dem ledernen Drehsessel seines Vaters. »Was kann ich für Sie tun, Genossen?«
»Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Yu und zog ein kleines Aufnahmegerät hervor. »Unser Gespräch wird aufgezeichnet.«
»Wir waren soeben in Ihrem Büro«, ergänzte Chen. »Die Sekretärin sagte uns, daß Sie zu Hause arbeiten. Wir sind mit den Ermittlungen in einem besonders gravierenden Fall befaßt. Deshalb sind wir direkt hierhergekommen.«
»Der Fall Guan Hongying, habe ich recht?« fragte Wu.
»Ja«, antwortete Chen. »Sie wissen offenbar, worum es geht.«
»Genosse Hauptwachtmeister Yu hat mich deshalb verschiedentlich angerufen.«
»Das ist richtig«, sagte Yu. »Das letzte Mal erzählten Sie mir, daß Ihre Beziehung zu Guan ausschließlich und absolut beruflicher Natur war. Sie haben von ihr einige Aufnahmen für die Zeitung gemacht. Stimmt das so?«
»Ja, für die Volkszeitung. Wenn Sie diese Bilder sehen möchten, ich habe einige davon im Büro. Für eine andere Zeitung habe ich eine ganze Serie gemacht, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich sie hier finden kann.«
»Sie haben Guan nur ein paarmal zu Fotositzungen getroffen?«
»Nun ja, in meinem Beruf muß man manchmal Hunderte von Aufnahmen machen, bevor man ein gutes Bild hat. Ich weiß nicht ganz genau, wie lange wir zusammengearbeitet haben.«
»Keine Kontakte anderer Art?«
»Kommen Sie, Genosse Hauptwachtmeister Yu. Sie können nicht nur die ganze Zeit ein Foto nach dem anderen machen und nichts anderes. Als Fotograf muß man sein Modell gut kennen. Man muß es sozusagen einstimmen, bevor man seine Seele einfangen kann.«
»Ja, Körper und Seele«, sagte Chen, »damit Sie sie erkunden können.«
»Im vergangenen Oktober«, sagte Yu, »unternahmen Sie eine Reise in die Gelben Berge.«
»Ja, das ist richtig.«
»Waren Sie allein unterwegs?«
»Nein. Mit einer Touristengruppe, die von einem Reiseveranstalter betreut wurde.«
»Aus den Unterlagen des Ostwind-Reisebüros geht hervor, daß Sie für zwei Personen gebucht hatten. Wer war die andere Person?«
»Äh – jetzt, wo Sie es sagen«, sagte Wu, »ja, ich habe eine Reise für eine zweite Person gebucht.«
»Wer war das?«
»Guan Hongying. Ich erwähnte die Reise zufällig, und sie war auch daran interessiert. Also fragte sie mich, ob ich die Reise für sie mitbuchen könnte.«
»Warum wurde die Reise nicht unter Guans eigenem Namen gebucht?«
»Na ja, weil sie eben so berühmt war. Und sie wollte in der Reisegruppe nicht als Berühmtheit behandelt werden. Sie wollte unbedingt unerkannt bleiben. Außerdem hatte sie Angst, daß das Reisebüro ihr Bild in seine Schaufenster stellen würde.«
»Was war mit Ihnen?« fragte Yu. »Sie reisten auch nicht unter Ihrem wirklichen Namen.«
»Das tat ich aus demselben Grund, wegen meiner Familie und alldem«, erwiderte Wu mit einem Lächeln, »obschon ich nicht so berühmt bin.«
»Laut den Bestimmungen müssen Sie Ihren Personalausweis vorlegen, wenn Sie sich bei einem Reisebüro anmelden.«
»Nun, die Leute reisen unter verschiedenen Namen. Das ist nicht ungewöhnlich, auch wenn sie ihre richtigen Ausweise zeigen. Das Reisebüro handhabt das nicht so streng.«
»Davon habe ich noch nie gehört«, sagte Yu. »Nicht als Polizist.«
»Als Berufsfotograf«, sagte Wu, »bin ich viel gereist. Ich kenne mich da aus, glauben Sie mir.«
»Da ist noch etwas, Herr Fotograf des Roten Stern.« Yu konnte den zunehmenden Sarkasmus in seiner Stimme kaum zügeln. »Sie waren nicht nur unter angenommenen Namen registriert, sondern auch als Ehepaar.«
»Ach das. Jetzt weiß ich, warum Sie heute hier sind. Lassen Sie es mich erklären, Genosse Hauptwachtmeister Yu«, sagte Wu, wobei er aus einer Schachtel Kent, die auf dem Tisch lag, eine Zigarette nahm und sich anzündete. »Wenn Sie mit einer Gruppe reisen, müssen Sie mit jemandem das Zimmer teilen. Einige Touristen reden einfach so viel, daß sie einen die ganze Nacht nicht in Ruhe lassen. Schlimmer noch, einige
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