Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
sich unschlüssig auf die Lippen,
während sie die Situation überdachte.
Rafael und Mr. Barrett die Stufen
hinauf zu folgen war ausgeschlossen; sie würde ihnen nur im Wege sein auf den
Zinnen, wo jeder seine Aufgabe zu erfüllen hatte. Und doch wollte sie die
herannahenden Rebellen sehen, um sich ein eigenes Bild von der Gefahr zu
machen.
Ihr Blick glitt zu dem verlassenen
Turm mit dem abbröckelnden Geländer und den hohen, schmalen Fenstern, den sie
schon einmal bestiegen hatte. Da die Küstenstraße, auf der die Rebellen sich
der Burg näherten, und der See in entgegengesetzter Richtung lagen, bestand
diesmal keine Notwendigkeit, auf den Wehrgang hinauszuklettern; sie würde durch
die Fenster alles sehen können, ohne sich in Gefahr zu bringen.
Entschlossen machte Annie sich zum
ältesten Teil der Burg auf, unbemerkt in all der Aufregung und Verwirrung, und
eilte fünf Minuten später bereits über den Gang auf die Turmstufen zu. Atemlos
stürzte sie in das runde, düstere Gemach und blieb nur einen Moment auf der
Schwelle stehen, um Atem zu holen. Als ihre Augen sich an den Lichtwechsel
gewöhnt hatten, erkannte sie die Umrisse von Gegenständen, was sehr seltsam
war, weil der Raum vorher vollkommen leer gewesen war.
»Ist hier jemand?« rief sie.
Niemand antwortete, aber die
Umrisse, die Annie gesehen hatte, waren jetzt deutlicher zu erkennen - ein
Stapel Decken, ein Korb, ein Wasserkrug und eine grobe Holzschüssel. Sie trat
einen Schritt näher, bückte sich und hob das Tuch, das den Korb bedeckte. Er
enthielt braunes Brot, Käse und Äpfel.
Im ersten Moment war Annies
Neugierde so groß, daß sie sogar die Rebellen vergaß, die auf die Burg
zustürmten. Jemand schien hier in diesem Raum zu leben, aber warum sollte
jemand sich mit einer so spartanischen Unterkunft begnügen, wenn die Burg doch
über mehr Schlafzimmer verfügte als die meisten großen Hotels?
Annie richtete sich auf und runzelte
die Stirn, weil die Antwort nur zu offensichtlich war. Wer auch immer diesen
Raum benutzen mochte, tat es, weil er nicht gesehen werden wollte.
Voller Unbehagen schaute sie zum
Gang hinüber, aber er war leer, und obwohl Annie angestrengt horchte, hörte sie
nichts als das entfernte Geschrei von Rafaels Soldaten und das stetige Pochen
ihres eigenes Herzens. Sie ging zum Fenster und schaute hinaus. Einen Moment
lang blendete sie das grelle Funkeln der Sonne auf dem Meer, sie blinzelte und
fröstelte dann plötzlich, aus der sicheren Überzeugung heraus, daß der
unbekannte Bewohner dieses Raumes zurückkehren würde, während sie der Tür den
Rücken zukehrte.
Nachdem sie mehrmals tief
durchgeatmet hatte, wurde sie etwas ruhiger, und nach einem letzten Blick über
ihre Schulter wandte sie ihre Aufmerksamkeit den Rebellen auf der Küstenstraße
zu. Es mußten über hundert Männer sein, schätzte sie, und obwohl sie ein bunt
zusammengewürfelter Haufen waren, verfügten die meisten von ihnen über ein
Pferd. Selbst aus der Ferne konnte Annie sehen, daß sie mit Gewehren und Säbeln
bewaffnet waren, und hinter den Truppen folgten mehrere von Mauleseln gezogene
Karren mit Kanonen.
Bittere Galle stieg in Annies Kehle
auf, aber sie schluckte sie rasch hinunter. Die Mauern von St. James waren
uralt und mußten zahlreiche schwache Stellen haben, die leicht zu finden waren,
wenn jemand an den Außenmauern vorbeiging oder vorbeiritt. Fast konnte sie
sich schon vorstellen, wie die Kanonenkugeln in das Gemäuer einschlugen und die
alten Steine nachgaben.
Sie dachte an das verborgene Tor und
die Höhle, die dahinter lag. Wenn sie die geheime Passage selbst durch reinen
Zufall entdeckt hatte, mußte es einem geschickten Rebellen von draußen mit der
gleichen Mühelosigkeit gelingen.
Annie wußte jetzt, daß sie Rafael
von ihrer Entdeckung hätte berichten müssen. In all der Aufregung jedoch hatte
sie es schlicht vergessen.
Sie ging zu einem anderen Fenster
und versuchte, von dort das Tor zu sehen, aber die Bäume des Obstgartens
erlaubten ihr keinen Blick darauf. Soweit sie sagen konnte, näherten sich keine
Rebellen aus dieser Richtung, aber sie hätten natürlich auch an der Außenmauer
entlangkriechen können, anstatt wie ihre Kameraden offen über die Küstenstraße
vorzudringen.
Nachdenklich legte Annie den Kopf
zurück und schaute zu der komisch geformten Decke auf. Vielleicht hätte sie von
dort mehr sehen können ... Aber dann schüttelte sie den Kopf, denn ihr letztes
Erlebnis auf dem Wehrgang stand ihr nur
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