Quade 03 - Suesse Annie, Wildes Herz
leiser Stimme, als das Schweigen sich über ein erträgliches Maß hin
ausdehnte.
Mit zitternden Händen hob Annie
langsam den Schleier an und schob ihn von ihrem Gesicht zurück. »Nein«, sagte
sie entschieden, »das bin ich nicht.«
Chandler starrte sie an, die Farbe
wich aus seinem Gesicht und überflutete dann wieder seine Wangen. Ein
entsetztes Schweigen breitete sich in den Bänken aus.
»Allmächtiger!« stieß Chandler
hervor. »Was für ein Trick soll das denn sein?«
Die Hochzeitsgäste begannen alle
gleichzeitig zu reden, und der Priester sah aus, als ob er am liebsten unter
den Altar gekrochen wäre, um sich dort zu verstecken.
Rafael trat vor, bleich vor Zorn.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte er zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Wo
ist meine Schwester?«
»Fort«, antwortete Annie. Und dann
brach sie in einem Wasserfall aus Seide, Perlen und Spitzen zusammen, am Ende
ihres Durchhaltevermögens angelangt.
Wie schon am Tag der Hinrichtung hob
Rafael sie auf seine starken Arme und trug sie durch den Gang und aus der
Kapelle, während die Gäste hinter ihnen tuschelten und Chandler lautstark
schwor, daß er Genugtuung für diese Kränkung fordern würde.
Annie, die noch immer geschwächt von
ihrer Ohnmacht war, ließ den Kopf auf Rafaels Schulter ruhen.
»Wo ist Barrett?« fragte der Prinz
jemanden, den sie nicht sehen konnte, als sie den Burghof überquerten. »Ich
brauche seine Hilfe.«
»Ist er nicht in der Kapelle, Sir?«
kam die erstaunte Antwort.
Rafael blieb stehen, schaute Annie
an, und sie sah die Wahrheit schon in seinen Augen dämmern, während sie sich
noch bemühte zu begreifen.
Mr. Barrett war Phaedras heimlicher
Geliebter. Warum war sie bloß nicht schon früher darauf gekommen?
Rafael fluchte derb. »Ich sollte
dich in diesen Brunnen werfen«, sagte er, als er mit dem Fluchen fertig war.
»Allein schon für das, was du deinen Haaren angetan hast.«
»Es wäre eine Sünde, ein solches
Kleid zu ruinieren«, wandte Annie mit zitternder Stimme und nicht ganz unvernünftig
ein. »Vor allem in diesen schweren Zeiten.«
Der Prinz begann weiterzugehen in
Richtung Burg. Mitten in der großen Halle tauchte mit bestürzter Miene Kathleen
auf. Ganz offensichtlich dachte sie, Annie würde zum Auspeitschen weggeschleppt
oder in die Folterkammer.
»Wohin bringt Ihr meine Herrin,
Hoheit?« wagte die treue Seele zu fragen und ging sogar soweit, dem Prinzen den
Weg zu verstellen.
»Ich habe es noch nicht
entschieden«, erwiderte Rafael kühl. »Aber was auch geschehen mag, junge Frau,
es ist nicht deine Sache.«
»Kathleen ...« sagte Annie flehend.
»O doch, das ist es, Sir —
Verzeihung, Hoheit«, beharrte Kathleen, und obwohl sie errötete, wirkte sie
nicht eingeschüchtert. »Miss Trevarren und ich sind gute Freundinnen, und ich
kann nicht zulassen, daß Ihr sie verletzt.«
»Verletzt?« wiederholte Rafael
gekränkt. »Du liebe Güte, Frau, wie kommen Sie darauf, daß ich Miss Trevarren
oder irgend jemand anderen verletzen würde?«
Kathleen schluckte, und Annie
staunte über ihren Mut. »Weil wir ... nun ja, Hoheit, wir fürchten eben, daß
das Blut Eures Vaters auch in Euch die Oberhand gewinnt. Er war ein grausamer
Mensch. Seht Euch nur den armen Mann im Lazarett an, mit all seinen Narben,
wenn Ihr mir nicht glaubt.«
Annie fühlte, wie Kathleens Worte
Rafael trafen und wie er sich dagegen stählte. Doch noch immer machte er keine
Anstalten, sie aus seinen Armen zu entlassen.
»Ich glaube dir«, sagte er nach
einem tiefempfundenen Seufzer. »Aber ich liebe diese Frau in meinen Armen, so
wahr Gott mir helfen möge, und du kannst dich darauf verlassen, daß sie nicht
mehr von mir zu erdulden haben wird als eine gehörige Strafpredigt.«
Nach diesen Worten trat Kathleen mit
gesenktem Blick beiseite, und Rafael stieg die Treppe hinauf und strebte auf
Annies Zimmer zu. Als er es erreicht hatte, warf er sie recht unzeremoniell auf
das hohe Bett, so daß die Röcke sich auf lächerliche Weise um sie bauschten.
Annie richtete sich schnell auf und
schaute zu, wie Rafael von der Plattform sprang und zur angrenzenden Tür zu
Phaedras Zimmer ging. Mitten im Raum blieb er jedoch stehen, als fiele ihm
erst jetzt wieder ein, daß seine Schwester die Burg verlassen hatte.
Langsam wandte er sich um. »Ich
werde sie finden«, schwor er. »Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem
Leben tue, werde ich sie finden und hierher zurückschleifen, um sie zur
Rechenschaft zu
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