Quadriga: Kriminalroman (German Edition)
beim Ankleiden geholfen hatte …
Mit wackeligen Beinen ging Marco
nach Hause. Seine Mutter war zum Glück nicht da. Er zog sich aus, fiel ins Bett
und schlief auf der Stelle ein. Die rechte Hand zu einer Faust geballt. In ihr hielt
er einen 50-Euro-Schein. Fest, ganz fest. Den hatte er von dem netten Mann bekommen.
Fünfunddreißig
Silvana war schwer aufgestanden.
Nicht, dass sie weiter schlafen wollte. Es war einfach die Tatsache, dass ihr vor
dem Erscheinen in der Questura graute. Alle, wirklich alle, wussten mittlerweile,
dass sie mit dem römischen Sonderermittler geschlafen hatte. Das wäre nun noch nicht
wirklich schlimm gewesen. Albtraumhaft wurde dieses sexuelle Abenteuer für sie aufgrund
der Tatsache, dass Giancarlo mittlerweile in Untersuchungshaft saß. Und zwar wegen
des Besitzes von Kinderpornografie. Bei der Durchsuchung seiner Hotelsuite hatten
die Kollegen einen ganzen Koffer mit wirklich ekelhafter Kinderpornografie sichergestellt.
Giancarlo war sprachlos. Ohne Widerstand ließ er sich verhaften. Silvana lachte
bitter. Wenn sie eines wusste, dann das, dass Giancarlo völlig normal war. So wie
sie es beide in der vorletzten Nacht getrieben hatten, gab es gar keine andere Erklärung.
Dreimal war er gekommen und hatte ihr multiple Orgasmen verschafft. Nein, ein Pädophiler
würde das nie bringen, da war sie sich sicher. Aber wie war das ekelhafte Zeug,
das ihr die Kollegen hohnlächelnd gezeigt hatten, in seine Hotelsuite gelangt? Was
sie zusätzlich verblüffte, war die Tatsache, dass im Laufe des gestrigen Tages Untersuchungen
der Festplatte seines Laptops zusätzlich kinderpornografisches Material ans Tageslicht
gebracht hatten. Wie war das alles möglich? Es gab nur eine Erklärung. Und die behagte
ihr gar nicht. Mit seinen Ermittlungen war Giancarlo der organisierten Kriminalität
auf die Zehen gestiegen. Um Giancarlo auszuschalten, hatte die Mafia ihm dieses
widerwärtige Zeug untergeschoben. Das war die einzige logische Erklärung. Sie musste
heute unbedingt mit Mastrantonio sprechen. Doch davor graute ihr. Sie wusste, wie
eitel der Dottore, wie ihn in der Questura alle nannten, war. Dass sie es mit dem
jungen Kollegen aus Rom getrieben hatte, würde ihr der Vicequestore so schnell nicht
verzeihen. Trotzdem musste sie ihn sprechen. Sie fühlte sich verpflichtet, ihn von
Giancarlos Unschuld zu überzeugen. Widerwillig kroch sie aus dem Bett, schüttelte
alle Glieder und ging ins Bad. Nach einer kurzen Dusche griff sie zum Schminkzeug.
Heute war Kriegsbemalung angesagt.
Und es kam schlimmer, als sie es
sich hatte träumen lassen. Als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete, thronte Ranieri
hinter seinem blitzblank geputzten Schreibtisch, der davor wochenlang verwaist und
verstaubt dagestanden hatte. Frisch rasiert, ausgeschlafen und völlig nüchtern.
Ohne rote Augen und ohne Alkoholfahne. Er knurrte eine Begrüßung und setzte sie,
während sie noch verdattert im Türrahmen stand, davon in Kenntnis, dass der Vicequestore
ihn neuerlich mit den Ermittlungen im Fall des ›Venedig-Rippers‹ beauftragt hatte.
Sie sei ab sofort den Fall los und solle sich, falls Ranieri sie nicht benötigte,
für andere Fälle zur Verfügung halten. Wütend stürmte sie zu ihrem Schreibtisch.
Und da lag sie: eine dürre Mitteilung Mastrantonios, dass Ranieri ab sofort allein
für die ›Venedig-Ripper‹-Ermittlungen verantwortlich sei. Sie knallte die Handtasche
auf den Schreibtisch, nahm die Dienstanweisung und rauschte aus dem Zimmer. Mit
großer Genugtuung warf sie die Tür hinter sich zu. Sie stürmte hinauf zum Büro Matrantonios,
riss die Vorzimmertür auf und stand vor Signora Orsetto. Durch modisch bunte Brillengläser
hindurch musterte sie Orsettos kalter Blick. Wie eine Riesenkröte thronte die Sekretärin
des Vicequestore hinter ihrem Schreibtisch und sagte keinen Ton. Sie starrte die
Viti nur an. Silvana hatte plötzlich die Vision, dass Orsettos klebrige Zunge vorschnalzen
und sie in das riesige Maul der Kröte ziehen würde. Wie ein missliebiges Insekt.
Silvana holte tief Luft und verlangte mit ruhiger Stimme, den Dottore zu sprechen. Signora Orsetto verzog keine Miene. Silvana fühlte sich plötzlich
in ihre Schulzeit zurückversetzt. Da hatte es Lehrerinnen gegeben, die auch nur
dasaßen und sie einfach fixierten. So lange, bis sie rot und komplett unsicher geworden
war. Genau diese Taktik verfolgte die Vorzimmerkröte. Silvana holte tief Luft und
ging blitzschnell zu der Tür, die ins
Weitere Kostenlose Bücher