Quarantaene
gleichzeitig, aber Boomer war als Erster auf den Beinen. Charlie, der sich mühsam aus einem verworrenen Traum über das Subjekt löste, langte nach seinem Pocket-Server und drückte auf die Foyer-Verbindung. »Wer ist da?«
»Ray Scutter. Tut mir leid, ich weiß, dass es spät ist. Ich störe Sie nur ungern, aber es handelt sich gewissermaßen um einen Notfall.«
Ray Scutter, unten am Eingang im schlimmsten Sturm dieses Winters. Mitten in der Nacht. Charlie schüttelte den Kopf. Er war auf seriöses Nachdenken nicht vorbereitet. Er sagte: »Ja, okay, kommen Sie rauf«, und ließ die Haustür aufspringen.
Er hatte Hemd, Hosen und Socken übergezogen, als Ray die Wohnungstür erreichte. Boomer flippte fast aus angesichts dieser nächtlichen Aktivität, und Charlie musste ihm befehlen, Ruhe zu geben, als Ray die Wohnung betrat. Boomer beschnüffelte die Knie des Mannes, dann schlurfte er mit sichtlichem Unbehagen davon.
Ray Scutter. Charlie kannte den derzeit leitenden Verwaltungsmann vom Sehen, hatte ihn aber noch nie persönlich gesprochen. Auch Rays Rede bei der Versammlung hatte er nicht selber miterlebt, aber schon gehört, dass sie eine Katastrophe gewesen sei. Charlie war in solchen Belangen großzügig: Er hasste das Reden in der Öffentlichkeit und wusste, wie leicht man am Rednerpult ins Stocken geraten kann.
»Sie können Ihre Jacke in den Schrank hängen«, sagte Charlie. »Setzen Sie sich.«
Ray tat keins von beidem. »Ich bleib nicht lange«, sagte er. »Und ich hoffe, dass Sie mitkommen werden, wenn ich gehe.«
»Wie das?«
»Ich weiß, wie seltsam das klingt, Mr. Grogan – Charlie, nicht wahr?«
»Charlie ist in Ordnung.«
»Charlie, ich bin gekommen, um Sie um Hilfe zu bitten.«
Etwas in Rays Stimme machte Boomer zu schaffen, sein Jaulen drang aus der Küche. Charlie hatte mehr Probleme mit der äußeren Erscheinung des Mannes – derangierter Anzug, zerzauste Haare, im Gesicht allem Anschein nach frische Kratzspuren.
Es war viel Tratsch über Ray Scutter im Umlauf; es hieß, er sei ein lausiger Geschäftsführer und ein echtes Arschloch im persönlichen Umgang. Aber Charlie hielt nichts von solchem Gerede. Wie auch immer, Chef war Chef. »Wie kann ich Ihnen denn behilflich sein, Mr. Scutter?«
»Sie besitzen doch einen Zugangs-Transponder für das Auge, nicht wahr?«
»Das stimmt, aber …«
»Ich möchte nichts weiter als einen geführten Rundgang.«
»Wie bitte?«
»Ich weiß, es ist außergewöhnlich. Ich weiß auch, dass es vier Uhr morgens ist. Aber ich habe einige Entscheidungen zu treffen, Charlie, und das möchte ich nicht tun, bevor ich die Anlage nicht persönlich inspiziert habe. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Sir«, sagte Charlie, »wir haben eine Nachtschicht, die im Moment Dienst tut. Sie brauchen mich wahrscheinlich gar nicht. Ich ruf nur eben Anne Costigan an …«
»Rufen Sie niemanden an. Die Leute sollen gar nicht wissen, dass ich komme. Ich möchte da einfach hingehen, nur wir beide, Sie und ich, und wir machen einen diskreten Rundgang und sehen, was wir sehen. Falls sich jemand beschwert – falls Anne Costigan sich beschwert –, übernehme ich die Verantwortung.«
Gut, dachte Charlie, denn es war ja Rays Verantwortung. Zögernd nahm er seine Winterjacke vom Kleiderhaken im Flur.
Boomer war überhaupt nicht zufrieden mit dieser Wendung der Ereignisse. Er jaulte erneut und stakste dann ins Schlafzimmer, wahrscheinlich, um ein warmes Plätzchen in Charlies Bett zu finden, denn Boomer war ein opportunistischer Hund.
Sie fuhren mit Rays Auto, einem gedrungenen kleinen Fahrzeug mit einer Menge von Schlechtwetteroptionen. Es wurde recht gut mit dem Schnee fertig, Mikroprozessoren kontrollierten jedes einzelne Rad und fanden selbst dort noch Bodenhaftung, wo es eigentlich keine geben konnte. Dennoch war es ein langsames Vorankommen. Der Schnee fiel wie säckeweise ausgekipptes nasses Konfetti, fast zu viel und zu schnell, als dass die Scheibenwischer noch dagegen ankamen. In dieser Undurchsichtigkeit von Zeit und Raum waren die Straßenlampen die einzigen Orientierungspunkte, Kerzen gleichsam, die mit metronomischer Regelmäßigkeit in der Dunkelheit aufleuchteten.
Im dicht abgeschlossenen Innenraum des Wagens verströmte Ray einen recht strengen Geruch. Sein Schweiß hatte einen seltsam essigsauren Unterton, gar nicht angenehm, und dazu kam auch noch etwas Kupferartiges, ein Geruch, wie man ihn mit den Backenzähnen aufnimmt. Charlie überlegte, wie er
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