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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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stehen, um den Palast zu betrachten. Er war so riesig... Was war sie schon wert in so einer gigantischen Welt aus Stein?
    Schließlich überquerte sie die Wiesen. Durch ein dunkles Portal und lange, dämmrige Treppen ging sie nach Hause. Niemand kreuzte ihren Weg. Nur bei einem Fenster hockte ein Rabe, und Baltibb verneigte sich, bevor sie weiterlief. Der Vogel starrte ihr aus kohleschwarzen Augen nach, ohne zu verraten, ob er ein Drache oder doch nur ein Tier war.
    Als Baltibb die Gehege erreichte, hörte sie ein Jaulen, und Mond kam ihr entgegengerannt. Verdutzt nahm sie ihn in die Arme. Wieso hatte ihr Vater ihn aus dem Zimmer gelassen? Es sah ihm nicht ähnlich, dass er die Tür versehentlich offen ließ.
    »Vater?«, rief sie. Keine Antwort. Nur ein Quieken und Zischen aus den Gehegen. Baltibb ging nach Hause, Mond trottete leise winselnd neben ihr her. Als ihre Wohnung hinter den Gehegen erschien, blieb sie erschrocken stehen.
    Die Tür war eingetreten.
    Sie starrte in das verwüstete Zimmer. Der Tisch war umgeworfen. Töpfe und zerbrochenes Geschirr bedeckten den Boden. Die Gardinen, die ihre Mutter vor ihrem Tod bestickt hatte, lagen zerrissen unter dem Fenster.
    Sie taumelte in ihre Kammer, die Bettdecke war von Krallen zerfetzt, das Kissen aufgerissen. Strohfüllung quoll aus der Matratze.
    Ihre Gedanken überschlugen sich. Was hatte das zu bedeuten?
    Dann hörte sie das Klirren von Metall und zuschlagende Tore, und Baltibb begriff, dass die Sphinxe nach ihr suchten.
    Der Drache, der bei der Pagode erschienen war. Die Drohung der Kaiserin, wenn Lyrian sie wiedersah... Die Sphinxe waren hier, um sie zu holen. Und sie hatten ihren Vater.
    Baltibb stand wie gelähmt in ihrem verwüsteten Zimmer und lauschte nach dem Lärm. Mond strich jaulend um sie herum, bis sie sich endlich fasste. Stockend verließ sie die Wohnung. Begann zu rennen. Rechts flatterten Singvögel in ihrem Gehege auf - dort mussten die Sphinxe sein. Sie bog nach links ab. Am Ende des Wegs lag ein Gang, der fort von den Gehegen führte. Unbemerkt rannten Baltibb und Mond hinein.
    Ein Labyrinth aus Gängen und Korridoren empfing sie. Bei jeder Abzweigung blieb sie eine Sekunde stehen und lauschte; manchmal hörte sie das Schaben und Schleifen von Krallen und lief in die andere Richtung. Schweiß brannte auf ihrer Stirn. Endlich fand sie eine schmale Treppe für Dienstboten und hetzte in die oberen Stockwerke. Herzschläge später war sie bei den kaiserlichen Gemächern angekommen. Sie wusste, wo Lyrians Zimmer lagen. Und sie wusste, dass sie sich auf dem Weg dorthin vor einem Dutzend Dienerinnen, Sphinxen und womöglich Drachen würde verstecken müssen.
    Sie holte zitternd Luft und lief los. Schon hörte sie heraneilende Schritte. Sie drückte sich in die Wandnische eines angrenzenden Korridors und presste Mond an sich. Keine Sekunde später rauschten drei Dienerinnen an ihr vorbei. Ein Vogel schoss ihnen nach und verwandelte sich in einen großen weißhaarigen Mann in silbernen Roben.
    »Hoheit!« Die drei Dienerinnen fuhren herum und verneigten sich tief.
    »Habt ihr ihn gefunden?«
    »Seine Majestät der Prinz ist in keinem seiner Gemächer, Hoheit«, antwortete eine von ihnen.
    »Sucht weiter. Sobald er auftaucht, gebt ihr der Kaiserin Bescheid!« Der Drache wurde ein grauer Dachs und lief in die andere Richtung davon.
    Baltibb drängte sich tiefer in die Wandnische. Lyrian! Wo war er nur? Sie brauchte ihn, einmal in ihrem Leben brauchte sie seine Hilfe!
    Sie rang ihre Panik nieder und versuchte nachzudenken. Die Kaiserin wollte sie höchstwahrscheinlich töten. Die Frage war, was Lyrian tun würde, um sie zu retten. Damals bei den Ruinenräubern hatte er sich um ihretwillen in Gefahr gebracht und unvernünftig gehandelt, um sie zu schützen. Aber konnte er sich dem Willen der Kaiserin widersetzen?
    Wo war er nur? Er musste doch wissen, dass die Kaiserin sie suchen ließ! Vielleicht war er ja auch auf der Suche nach ihr, um sie vor den Sphinxen zu finden? Baltibb schüttelte diese Hoffnung energisch ab. Wenn er wollte, hätte er verhindert, dass die Sphinxe ihren Vater holten. Wahrscheinlich war er irgendwo in den Gärten und träumte von seinem Gildenmädchen.
    Sie blendete all diese Gedanken aus, so gut es ging. Auf Lyrian konnte sie sich nicht verlassen. Auf niemanden, nur auf sich selbst. Diese Erkenntnis war so erschütternd, dass sie sich auf die Lippe beißen musste, um ein Wimmern zu unterdrücken.
     
    Die Nacht war angebrochen.

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