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Rabenmond - Der magische Bund

Titel: Rabenmond - Der magische Bund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny-Mai Nuyen
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Kraftlos kroch Baltibb auf die Steine und blieb reglos liegen. Sie spürte keinen Regen, denn sie waren unter einer Brücke gelandet. Mond brach hechelnd neben ihr zusammen.
    Sie schlief ein oder verlor das Bewusstsein. Als sie aufschrak, wusste sie nicht, wie viel Zeit vergangen war, doch ihre Kleider und Haare waren noch nass, es konnte nicht lange gewesen sein. Wankend stand sie auf und Mond folgte ihr mit tapsigen Schritten.
    Der Regen spülte von allen Dächern und überflutete manche Viertel so stark, dass das Wasser über Baltibbs Knöchel reichte. Sie war schon so lange nass, dass sie es kaum mehr wahrnahm. Alles war von dumpfem Schmerz überschattet.
    Stur setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie ein großes Stadttor erblickte. Sphinxe hielten Wache. Einer von ihnen nahm Menschengestalt an.
    »Bürgerschein!«, rief er.
    Steif kam Baltibb näher. »Was?«
    »Ruinenbewohner?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Knurrend packte der Sphinx sie am Kittel und stieß sie durch das Tor. Mit einem Aufschrei stürzte Baltibb auf den Boden. Ihr Knie schlug hart auf dem Pflaster auf.
    Sie drehte sich ängstlich um. »Mond, aus!«
    Bevor Mond den Sphinx hätte anspringen können, war einer der Löwen dazwischengegangen und packte Mond mit dem Maul um die Seite. Baltibb sank das Herz vor Schreck - doch der Sphinx zerbiss Mond nicht, sondern schleuderte ihn neben sie. Jaulend fiel er auf den Boden.
    »Nächstes Mal verlässt du Wynter rechtzeitig. Und lass deinen Köter in den Ruinen!«
    Schluchzend zog sie Mond auf die Beine und schlich mit ihm davon.
     
    Baltibb war noch nie in den Armenvierteln gewesen. Die Straßen - sofern man die engen Hohlräume zwischen den Ruinen so nennen konnte - waren ungepflastert und vom Regen in tiefe Schlammgruben verwandelt worden. Immer wieder landete sie in Sackgassen und musste über Geröll und halb zerfallene Mauern klettern. Einmal kam sie an einer Hütte vorbei, der eine Mauer fehlte, und konnte geradewegs in die Schlafkammer von fünf abgemagerten Kindern blicken, die sich um eine ranzige Öllampe drängten. Abgesehen davon begegnete Baltibb kaum Menschen.
    Schließlich kroch sie in eine Kuhle zwischen zwei zerbröckelten Steinwänden und schob ein triefendes Brett darüber, damit sie und Mond einigermaßen vor dem Regen geschützt waren. Auf dem nackten Boden rollte sie sich zusammen und schlief augenblicklich ein.
     
    Der nächste Morgen war grau. Als sie aufwachte, war ihr, als sei die ganze Welt unter einem Bleiregen verschüttet. Im Palast waren manche Tage düster gewesen, aber nie hatte Baltibb einen Morgen erlebt wie diesen.
    Mond lag nicht mehr neben ihr, sondern hockte etwas abseits im Schutz einer schiefen Überdachung und betrachtete die trostlose Umgebung. Baltibb wusste, dass er dasselbe empfand wie sie.
    Wo waren sie nur gelandet?
    Im dämmrigen Licht sah Baltibb die Wunde, die sie sich an der Eisenspitze unter Wasser geholt hatte: eine tiefe, verkrustete Schramme in ihrer Schulter. Aber sie sah schlimmer aus, als sie sich anfühlte. Wahrscheinlich weil der Rest ihres Körpers kaum weniger schmerzte. Die blauen Flecken und kleineren Kratzer, die sie sich bei ihrer Flucht zugezogen hatte, konnte sie gar nicht zählen.
    Schließlich stand sie auf und ging. Wohin, wusste sie nicht.
    Als sie die Ruinen verließ, sah sie eine Gruppe Holzfäller durch den Regen stapfen. Sie folgte den Männern in die Wälder. Inzwischen rumorte der Hunger in ihrem Bauch - wenn sie nicht bald etwas aß, würde sie vor Erschöpfung zusammenbrechen. Die Holzfäller ließen ihren Proviant in einem hohlen Baum, bevor sie sich in der Nähe an die Arbeit machten. Als die Männer beschäftigt waren, schlich Baltibb heran und stahl zwei Bündel, in denen feuchtes dunkles Brot eingewickelt war. Sie hatte nie Schlechteres probiert; offenbar war es mit Erde gestreckt worden und schmeckte nur entfernt nach Getreide. Mond verzichtete auf den Anteil, den Baltibb ihm hinhielt, und ging stattdessen auf Mäusejagd.
    Baltibb erinnerte sich an ihre Reise mit Lyrian vor mehr als einem halben Jahr. An meilenweite Stille und Schneelandschaften, die sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen. Unberührtes Weiß, in das sie ihre Fußspuren gesetzt hatten, Lyrian seine und Baltibb daneben ihre, zwei Fährten, die sich nie trennten. Sie dachte an den Fuchs, in dessen weichem Fell sie eingeschlafen war, zitternd vor Kälte und Glück. Sie dachte an den traurigen Klang der Flöte und wie

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