Rabenmond - Der magische Bund
Lyrians Melodien die Welt erfüllt hatten, die mit angehaltenem Atem lauschte.
Und nun regnete es, überall platschte das kalte Wasser durch die Bäume und der Wind fauchte im Geäst. Baltibb zog die Schultern hoch. Insgeheim hielt sie nach jener Ruine Ausschau, in der Lyrian ihr einst das Leben gerettet hatte. Dort wollte sie sich verstecken, bis sie sich über ihre Zukunft klar geworden war.
Aber im Grunde spürte Baltibb, dass die Ruine ihr Endziel sein würde. Es gab keine Zukunft. Ihr Leben lang war sie eine Dienerin gewesen, ohne die Drachen, ohne Lyrian war sie nichts. Sie würde zum alten Gebäude zurückkehren, weil es das Denkmal einer Erinnerung geworden war, der schönsten Erinnerung überhaupt. Dann würde sie sterben.
Dieser Gedanke streifte ihr Bewusstsein mehr, als dass er es erreichte, und beunruhigte Baltibb nicht. Sie fühlte eine stille, niedergeschlagene Erleichterung.
Den ganzen Tag stapfte sie durch die Wälder. Sie fand Ruinen, im Dickicht verborgen oder hoch aufragend wie die Bäume, aber das alte Gebäude, das sie suchte, war nicht dabei. Schließlich wurde es dunkel. Sie stieß auf eine Ruine, die halb von den Wurzeln der Bäume in den Boden gedrückt und halb herausgehoben worden war. Erschöpft kroch sie hinein, aß den Rest des gestohlenen Brotes und fiel in einen ohnmachtsgleichen Schlaf.
Die Welt lag in dichtem Nebel, als sie wieder zu sich kam. Farbloses Dämmerlicht glomm von irgendwo, zu hell für die Nacht und zu dunkel für den Tag. Der Regen war einem feinen Nieseln gewichen. Baltibb setzte ihren Weg fort, riss Blätter ab und versuchte, ihren Hunger zu stillen, aber sie bekam nur Bauchschmerzen. Die Kälte, die Nässe, die Erschöpfung, alles wurde zu viel... zitternd taumelte sie voran, zog sich von Baum zu Baum und schloss die Augen. Dann fand sie die Ruine eben nicht, und wenn schon... was machte es für einen Unterschied, ob sie ihre Grabkammer erreichte oder hier auf der Erde liegen blieb. Es war sowieso alles eine Ruine, die ganze verdammte Welt.
Erinnerungen an ihren Vater überkamen sie und Baltibb schluchzte auf. Bestimmt hatten die Drachen ihn umgebracht. Es war ihre Schuld. Sie wollte um Vergebung bitten, aber sie schaffte es nicht, nicht einmal in Gedanken. Denn wie könnte sie sich dafür entschuldigen, dem Prinzen gehorcht zu haben? Sie war nur treu gewesen - sie war mehr als eine Dienerin geworden, weil man es von ihr verlangt hatte, und dafür war ihr Vater jetzt tot. Es war ihre Schuld und doch hätte sie nichts dagegen tun können …
Ohne dass sie es richtig gemerkt hatte, war sie einen Geröllhaufen emporgeklettert. Plötzlich stand sie über dem Dickicht und konnte den Wald bis in die Ferne überblicken. Und alles sah gleich aus.
Graue Stämme im Nebel, Striche im Weiß, nichts, nichts. Keine Tränen trübten ihren Blick, damit die Welt verschwamm - dieser Trost blieb ihr verwehrt. Mond strich winselnd um sie herum. Als sie schluchzte, bellte er. Baltibb senkte das Gesicht und verstummte schließlich vor Schwäche.
Mond bellte immer noch. Sie reagierte nicht, bis sich noch ein anderes Geräusch vom Wasserplätschern abhob: das leise Klirren von Metall.
Langsam drehte sie sich um. Unterhalb des Geröllbergs standen mehr als dreißig Gestalten.
Sie waren bewaffnet, trugen dicke Umhänge, Mäntel und Rüstzeug und führten Packpferde mit sich.
Baltibb zog die Nase hoch. Ruinenräuber. Auch gut. Dann ging es schneller.
»Wer bist du?«, rief einer der Männer.
Eine Frau neben ihm zog einen Pfeil aus ihrem Köcher und legte ihn an ihren Bogen. »Antworte! Du trägst das Wappen der Drachen auf deinem Kittel!«
»Sie ist ein Spion«, sagte jemand.
»Schießt erst auf den Drachen!«
Baltibb zog Mond hinter sich. »Er ist kein Drache. Er ist nur ein Hund.« Sie sammelte ihre letzte Kraft und rief: »Bitte lasst ihn am Leben. Mit ihm könnt ihr ja sowieso nichts anfangen.«
Hier und da lachte jemand. Baltibb stellte sich so gut wie möglich vor Mond, um ihn zu schützen, doch plötzlich rutschte sie auf dem nassen Stein aus und fiel unbeholfen auf die Knie. Sie blieb sitzen und schlang die Arme um Mond, der die Ruinenräuber anbellte. Wie lange sollte sie noch um ihr Leben kämpfen? Sie wollte nicht mehr, es war ihr gleich.
»Worauf wartet ihr? Bringt mich um. Aber er ist kein Drache.«
Sie hörte nichts. Als sie endlich das Gesicht aus Monds Fell nahm und die Augen aufschlug, stand die Frau mit dem Bogen vor ihr. Sie hatte sich das Schaltuch
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