Rabenvieh (German Edition)
Nach der Begutachtung meiner Röntgenbilder fragte mich der Arzt, mit wie viel Jahren ich mir meinen Steißbeinbruch zugezogen hätte.
Die vertane Chance
Mein Dasein konnte man schon längst nicht mehr als Leben bezeichnen. Morgens schlug ich mir die Decke über den Kopf, nur um nicht in die grausame Realität blicken zu müssen. Nach außen hin funktionierte ich noch, aber in meinem Inneren fühlte es sich so an, als wäre mein Leben schon längst erloschen.
Mit meinem Plan, mich durch Rebellion zu töten, scheiterte ich. Der Vorfall mit Rebecca lag bereits einige Monate zurück. Mittlerweile war ich fünfzehn Jahre alt und fast nur noch mit einer einzigen Frage beschäftigt. »Gibt es nach dem Tod ein Leben?« Ich wollte so gerne sterben und nochmals auf die Welt kommen. In eine Welt ohne Gewalt. In eine Welt des Friedens und in eine Welt mit liebevollen Eltern.
Eines Nachmittags fuhren meine Pflegeeltern in die nächstgrößere Ortschaft, um Einkäufe zu erledigen. Wie immer, wenn ich mich außerhalb der Kellerräume aufhalten durfte und nicht mit zum Einkaufen fahren musste, waren während ihrer Abwesenheit alle Räume versperrt und die Schlüssel versteckt. So eilig konnte meine Pflegemutter es nie haben, dass sie nicht vor dem Verlassen des Hauses noch schnell alle Türen absperrte und die Zimmerschlüssel entweder in ihrer Handtasche mit sich trug oder eben zu Hause versteckte. An diesem Nachmittag allerdings hatte sie ein Zimmer vergessen abzusperren. Das Wohnzimmer. Ich saß auf der Kellerstiege und sah ihr zu, wie sie von Tür zu Tür ging, alles absperrte und die Schlüssel abzog. Gerade, als sie auf dem Weg zum Wohnzimmer war, läutete das Telefon. Sie machte kehrt und nahm das Telefongespräch entgegen. Das Telefonat brach sie sehr schnell ab, denn mein Pflegevater hatte schon mehrmals ungeduldig nach ihr gerufen. Sie eilte aus dem Haus und vergaß dabei diese eine Tür noch zu versperren. In einem der Wohnzimmerschränke waren sämtliche Medikamente verstaut, die sich über all die Jahre angesammelt hatten. Von einfachen rezeptfreien bis hin zu verschreibungspflichtigen Pillen. Das war meine Chance und ich ergriff sie, weil ich wusste, dass ihr dieser Fehler nicht noch mal so schnell passieren würde. Ich rannte aus dem Haus, hinunter zum Zaun und spähte ihnen nach. Ich wartete so lange, bis das Auto links auf die Hauptstraße gebogen war, und rannte wieder zurück. Ich ging ins Wohnzimmer und öffnete eine dieser Schubladen mit den Medikamenten und bediente mich mit allem, was darin lag. Hastig, und immer mit einem Auge auf die Tür gerichtet, drückte ich mir aus sämtlichen Medikamentenpackungen einige Pillen heraus, packte den Rest in die einzelnen Packungen wieder zurück und verstaute diese wieder im Schrank. Um keinen Verdacht zu schöpfen, schlichtete ich in der Schublade wieder alles so, wie ich es vorgefunden hatte. Bevor ich den Raum verließ, sah ich noch auf den Boden, um sicherzugehen, dass ich nichts verloren hatte. Selbst eine Fussel von meinem Pullover oder ein verloren gegangener Faden von meinen Filzpantoffeln hätte mich verraten. Mir war nach Luftsprüngen, dass mir meine Pflegemutter, natürlich ungewollt, die Möglichkeit bot, an Medikamente zu kommen, um meinem Leben ein Ende zu setzen. Ich ging in mein Zimmer und versteckte die Handvoll Pillen in meinem Kopfpolster. Als meine Pflegeeltern von ihren Einkäufen zurückkamen und meine Pflegemutter nach mir sah, saß ich in meinem Zimmer und tat so, als würde ich interessiert in einem Schulbuch lesen. Ich befand mich in einem regelrecht euphorischen Zustand. Ich war davon überzeugt, dass dank dieser Pillen mein jahrelanger Überlebenskampf und der ganze Albtraum hier in wenigen Stunden endlich ein Ende hätte.
Draußen begann es zu dämmern. Ich ging ins Badezimmer und ließ etwas lauwarmes Wasser in meine Waschschüssel. Auch von dieser konnte ich mich endgültig verabschieden. Ich hasste diese rote Waschschüssel, in die gerade mal drei bis vier Liter Wasser hineinpassten. Dieses wenige Wasser musste laut Ansicht meiner Pflegeeltern reichen, um meinen ganzen Körper zu reinigen. Duschen, dieses Privileg hatten ausschließlich meine Pflegeeltern sowie Friederike und Sybille. Das Gefühl des Duschens durfte ich bis dahin ein einziges Mal kennenlernen – im Urlaub, als mich meine Pflegemutter vor den anderen Urlaubsgästen bis auf die Knochen blamierte. Baden war mir nur mit abgestandenem, verbrauchtem Wasser, indem schon
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