Rache - 01 - Im Herzen die Rache
bedeuten hatte, doch sie verkniff sich die Fragen.
»Hoffentlich bekommt der Weihnachtsmann nicht mit, dass wir ungezogen waren«, flüsterte er ihr zu. Und als er sich einen Schritt entfernte, merkte Em, dass sie, fast wie unter Zwang, ihre Hand nach seiner ausstreckte. Das hier war mehr als nur ein Kuss. Es war etwas viel, viel Größeres. Er sah sie an.
»Ich wünsch dir einen schönen Abend« war alles, was sie herausbrachte. Er drückte fest ihre Hand und ließ sie dann los. Sie stand noch einen Augenblick da, im sanften Schein der Lichterketten. Schließlich drehte sie sich um und er blickte ihr nach, als sie in ihren Wagen stieg und davonfuhr.
Auf der Heimfahrt drehte Em das Radio auf volle Lautstärke und sang die Lieder beim Oldie-Sender mit. Die Bowlingkugel von heute Morgen befand sich nach wie vor in ihrem Bauch, doch jetzt fühlte es sich an, als schwebte sie in einer Wolke aus Schlagsahne – noch immer schwer, aber von einem himmlisch süßen Zauber umgeben. Sie und Zach hatten sich geküsst. Zach hatte sie geküsst. Der Gedanke daran schwirrte ihr im Kopf herum.
»I think we’re alone now«, sang sie lauthals mit.
Und dann erfasste das Licht ihrer Scheinwerfer plötzlich eine Gestalt, die am Straßenrand stand. Einen Moment lang erkannte Em nur ihr Gesicht, den weit geöffneten Mund, zu einem Schrei erstarrt …
Erschrocken riss sie das Lenkrad nach links und dann wieder zurück in die andere Richtung. Sie merkte, wie die Reifen ihre Haftung verloren und gefährlich hin- und herschlidderten. Als sie verzweifelt bremste – viel zu heftig und ruckartig –, geriet ihr Wagen schlingernd von der Fahrbahn ab. Sie landete auf dem Seitenstreifen und anschließend in einer flachen Schneeverwehung. Der vordere rechte Kotflügel schrammte gegen eine steinerne Schutzmauer, wobei ihr ganzer Körper mit einem Ruck nach vorn geschleudert wurde und sie mit der Brust beinahe auf das Lenkrad geknallt wäre, bevor der Sicherheitsgurt sie wieder zurückkatapultierte.
Dann war alles still, bis auf das Radio, das noch immer plärrte: »There doesn’t seem to be anyone a-rou-ound«.
Zitternd löste sie die Hände vom Lenkrad, schlug mit der Faust auf den Radioknopf, um das Gerät auszustellen, und schnallte sich ab. Sie hatte nicht das Gefühl, wirklich verletzt zu sein, doch ihr Herz raste und aus der Kühlerhaube stieg ein dünnes Rauchfähnchen auf. Sie nestelte an ihrer Tasche, zog ihr Handy heraus und wählte Zachs Nummer. Sie war erst ein paar Kilometer von seinem Haus entfernt – er würde sie sicher holen kommen. Es hob niemand ab. Sie versuchte es noch einmal und es klingelte und klingelte. Noch ein letzter Versuch, dann rief sie JD an.
»Em?«
Kaum hörte sie JDs Stimme, begann sie zu weinen.
»JD. Ich bin von der Straße abgekommen. Am Rolling Hill, unten bei der Steinmauer. Ich weiß nicht, was ich machen soll.« Ihr Jammern erfüllte die Leere des Wagens, die erdrückende Stille.
»Bleib, wo du bist. Ich hole dich ab«, sagte JD. »Ich bin gleich da, okay? Bleib einfach im Auto und versuch, dich warm zu halten.«
»Ist gut … okay«, schluchzend legte sie auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Dann schoss es ihr plötzlich durch den Kopf: die Gestalt. Das Mädchen, das sie im Dunkeln gesehen hatte. Die Erscheinung, der sie hatte ausweichen müssen. War da draußen etwa jemand? Em öffnete die Autotür und rief in die Dunkelheit: »Hallo?«
Vorsichtig trat sie auf die Straße. Es hatte wieder angefangen zu schneien und im Gegensatz zu den paar Flocken am Abend davor, meinte dieser Schnee es wirklich ernst. Es würde weiße Weihnachten geben. Sie sah sich um, versuchte sich zu erinnern, wo genau sie die Frau gesehen hatte, oder die Gestalt, oder was auch immer. Da erblickte sie etwas – etwas Dunkles, Zerknäultes auf der anderen Straßenseite. Oh Gott! Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen und sie zog sich die Kapuze über die Stirn, als könnte eine weitere Stoffschicht ihre rasenden Gedanken beruhigen.
»Hallo? Geht es Ihnen gut?« Sie ging näher heran; mit stockendem Atem. Und dann löste sich ihre ganze Anspannung mit einem Mal auf. Was da auf dem Asphalt lag, war ein Mantel.
»Hallo?«, rief sie noch einmal, während sie hinüberlief, um ihn aufzuheben. Sie blickte sich suchend um, voller Furcht, dass sie über das Mädchen stolpern könnte, dem der Mantel gehörte und das nun irgendwo im Schnee lag. Es konnte doch nicht einfach so verschwunden sein.
Doch als sie sich
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