Rache - 01 - Im Herzen die Rache
Hand aus, um durch ihr ohnehin schon wirres Haar zu wuscheln. Und genau in diesem Zustand schliefen sie ein, JDs Fingerspitzen auf Ems Kopf, Em an die Rückenlehne des Sofas gekuschelt, die Nase an das braune Leder gedrückt. Das erste Mal seit Tagen fand sie schnell und traumlos in den Schlaf.
Ein paar Stunden später schreckte sie jedoch plötzlich auf. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war; die Zeitanzeige auf dem DVD-Player blinkte 12:00 und stand offensichtlich auf Reset. Sie zitterte, setzte sich auf und nahm ihre Haare zu einem struppigen Pferdeschwanz zusammen. Ihr Mund fühlte sich von dem süßen Rum und der Limonade ganz pelzig an. Das Mondlicht fiel durch die Schiebetür und sie sah zu JD hinüber, der still vor sich hin schlief, den Mund leicht geöffnet, die Hand noch immer über dem Kopf ausgestreckt. Seine Wangenknochen erschienen im Dunkeln ganz kantig. Es war, als sei er eine völlig andere Person – nicht der Junge, mit dem sie aufgewachsen war, sondern irgendein Typ mit ausgeprägtem Kiefer und einer seltsamen Frisur. Jemand, den sie gerade kennengelernt hatte und über den sie mehr erfahren wollte.
In diesem Augenblick überkam sie ein sonderbares Gefühl, als ob sie jemand beobachtete. Doch im ganzen Haus herrschte bleierne Stille. Sie ließ den Blick durchs Zimmer gleiten, über den Fernseher, die Lampe, die leere Popcornschüssel, die rotbraune Tapete an der Wand. Und dann blieb ihr fast das Herz stehen. Da, hinter der Schiebetürscheibe, war ein Gesicht. Ein Mädchen. Dasselbe Mädchen, das sie neulich in der Nacht nach Ians Party gesehen hatte – blond, sanft leuchtend, bedrohlich lächelnd.
Em stockte der Atem. Sie blinzelte und schüttelte den Kopf. Und als sie die Augen wieder richtig aufmachte, war das Gesicht verschwunden. Nichts mehr zu sehen.
Sie legte sich wieder hin, hektisch atmend. Schnappte sie jetzt langsam völlig über? Erst diese anonyme Nachricht in ihrem Wintermantel und jetzt das.
Ohne ihn aufzuwecken, schmiegte sie sich ein kleines bisschen enger an JD. Sie hörte das Ticken der Uhr in der Diele, den Wind in den Zweigen vor dem Haus, das Brummen des Kühlschranks in der Küche. So lag sie da, für den Rest der Nacht, zuckte bei jedem Laut zusammen und konnte kein Auge mehr zumachen.
Kapitel 14
Der Abend würde gut werden. Chase hatte es irgendwie im Gefühl. Sein Puls raste schon, seit Ty ihn an diesem Morgen angerufen und er sie gefragt hatte, ob er sie zu einem richtigen Abendessen einladen dürfte. Sie hatte ein französisches Restaurant in einem Strandort ungefähr zwanzig Minuten den Highway hinauf vorgeschlagen. Daraufhin war er kurz in Panik geraten – das Restaurant, La Lumière de la Mer, genoss den Ruf, eins der vornehmsten im südlichen Maine zu sein, mit den entsprechenden Preisen – doch er war am Telefon ganz cool geblieben. Er würde das schon irgendwie hinbekommen. Er musste. Sie würden sich wieder küssen, noch mehr als beim letzten Mal, und er würde sie bitten, mit ihm zum Footballfest zu kommen. Bis zu diesem wichtigen Ereignis waren es nur noch ein paar Tage, und jetzt, wo die Dinge mit Zach und den Jungs so beschissen liefen, brauchte er Ty mehr denn je.
Einen Großteil des Tages lenkte er sich damit ab, alte National-Geographic-Ausgaben zu lesen, die großen eingehefteten Karten herauszulösen und sie auf seinem Schlafzimmerboden auszubreiten. Vielleicht würde er einmal mit Ty zusammen die Welt sehen. Er gönnte sich eine ausgiebige heiße Dusche, zum einen, weil es sich um einen besonderen Anlass handelte, zum anderen, damit sein blau-weiß gestreiftes Hemd noch ein paar zusätzliche Augenblicke in dem heißen Wasserdampf hängen konnte. Er rasierte sich und klopfte das herbe Rasierwasser, das sein Dad vor langer Zeit zur Aufbewahrung in der schwarzen Tasche unter dem Waschbecken verstaut hatte, auf Hals und Kinn. Dann zog er in letzter Minute ein Sakko über sein Hemd. Auch das hatte einmal seinem Vater gehört. Er hatte es vor ein paar Jahren in dem winzigen Schrank seiner Mom gefunden, wo es ihr nur Platz wegnahm. Offensichtlich handelte es sich um das Jackett, das sein Dad bei der standesamtlichen Trauung seiner Eltern vor siebzehn Jahren getragen hatte. In den dunklen Jeans, den feinen Schuhen und mit den gerade aufgerichteten Schultern hätte er leicht für einen College-Typen durchgehen können. Er fühlte sich ausgezeichnet, wie vor einem Spiel gegen eine Schule mit gutem Ruf. Vor lauter Aufregung spannten sich seine
Weitere Kostenlose Bücher