Rache - 01 - Im Herzen die Rache
zu gehen – ausgerechnet mit Chase. Em musste zugeben, dass sie sich ein bisschen um ihn sorgte. Nachdem er heute Morgen diese SMS bekommen hatte – so verstört wie er daraufhin aussah, war Em sich sicher, dass sie von dieser Ty kam –, hatte sie ihn den ganzen Tag lang nicht mehr gesehen. Nicht etwa, dass sie ernsthaft nach ihm gesucht hätte. Vielmehr hatte sie den Tag damit zugebracht, den Augenkontakt mit möglichst jedem zu vermeiden. Sie wusste schließlich nicht, was oder wie viel Gabby herumerzählt hatte.
Ein kalter Wind kam auf, als Em in ihren Alpaka-Fäustlingen, Cordy fest an die Brust gepresst, auf der Veranda hinter dem Haus stand und mit ihren Feuermach-Utensilien hantierte. Es war beängstigend, nicht zu wissen, was die Leute über einen redeten. Em dachte daran, wie häufig sie und Gabby schon hinter dem Rücken anderer Leute über sie getuschelt hatten. Nichts wirklich Fieses, aber Kommentare über Outfits und Kaum-zuglauben-dass-er-mit-der-zusammen-ist und so etwas. Sie hatte sich nie die Mühe gemacht darüber nachzudenken, wie schrecklich es sein musste, sich auf der anderen Seite der vorgehaltenen Hand zu befinden.
Wild entschlossen präparierte sie den Grill ihres Dads für die Opfergabe. Sie kippte die Holzkohle hinein, bespritzte sie mit Flüssiganzünder und setzte den Rost zurück auf die schwarzen Stücke.
Dann entzündete sie ein Streichholz, ließ es hineinfallen und sah dabei zu, wie die blau-gelbe Flamme von Kohlestück zu Kohlestück sprang. Es war angenehm, in ihrem eiskalten Garten etwas Wärme zu spüren – vielleicht könnten sie und Gabby, wenn die Welt erst wieder in Ordnung war, ein Wintergrillen veranstalten, mit Lagerfeuerliedern, gerösteten Marshmallows und allem. Falls die Welt jemals wieder in Ordnung sein würde.
Und dann, ganz langsam, den Blick auf die Flammen gerichtet, beugte Em sich näher heran und hielt Cordy mit entschlossener Miene über den Grill. Bei drei würde sie ihn fallen lassen. Eins, zwei … drei.
Der vertraute Grillgeruch wurde rasch vom beißenden Gestank brennender Synthetikfasern verdrängt und Em wich mit gerümpfter Nase zurück und beobachtete, wie Cordys Extremitäten in der Hitze zusammenschrumpelten.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch, von irgendwo weiter hinten im Garten. Ihr Herzschlag setzte kurz aus. Ein Tier vielleicht? JD? Sie spähte über den Grill hinweg und versuchte, etwas durch die Flammen und den Rauch zu erkennen.
Auf einmal hatte auch ihr Schal Feuer gefangen. Sie schrie auf und griff danach. Sie spürte, wie die Hitze sich in der Wolle nach oben fraß, immer näher und näher an ihr Kinn. Laut schreiend wickelte sie so schnell sie konnte den Schal vom Hals, während die Flammen schon an ihren Händen emporschlugen. Mit einer letzten Drehung löste er sich; sie schleuderte ihn auf den Boden und sah zu, wie er zischend in den Schnee fiel und eine schwarze Rauchwolke hinterließ.
Sie krümmte sich nach vorn und tastete ihren Hals nach Verbrennungen ab. Du lieber Gott.
Als ihr Herzschlag wieder zu seinem normalen Rhythmus zurückgefunden hatte, nahm sie Cordys verkohlte Überreste vom Grill und benutzte die Grillzange, um die zischende, unförmige Masse in eine Schneeverwehung zu schieben. Als der Schnee rundherum schmolz, stieg Dampf in die Luft. Und während sie mit dem Fuß noch mehr Schnee über die Asche schob, um sie vollkommen unter einer reinen weißen Decke zu begraben, schoss ihr die unheimliche Nachricht, die sie auf dem Spielplatz gelesen hatte, wieder durch den Kopf: Reue ist manchmal nicht genug.
Auf der Fahrt zum Gemeindezentrum in der Innenstadt zog Em am Saum ihres Kleides und hoffte, es würde Keine Schlampe! schreien, so laut ein Kleid das eben konnte. Sie hatte ihr Haar zu einem akkuraten Knoten zurückgenommen und trug flache Schuhe. Sie wollte so unschuldig wie möglich aussehen. Und sie war mit ein paar Minuten Verspätung losgefahren, in der Hoffnung, Chase würde wie verabredet hinter der Flügeltür in der Eingangshalle bereits auf sie warten.
Doch Chases Wagen stand nicht auf dem Parkplatz, als sie vorfuhr. Ob seine Mom ihn vielleicht vorbeigebracht hatte? Nein. Sie stieg aus und lief zum Foyer, wobei die kalte Luft durch ihre Nylonstrümpfe zog. Am Eingang war er auch nicht. Und gerade als sie sich mit der Frage beschäftigte, ob sie hineingehen und nach ihm suchen oder lieber an Ort und Stelle bleiben sollte, um so zu tun, als sei sie intensiv damit beschäftigt, ihre SMS zu
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