Rache - 01 - Im Herzen die Rache
Unterton. »Ich wollte mich nur mal melden, hören, wo du bist.«
Em hörte in Gedanken schon die Worte aus ihrem Mund purzeln: Ich fahre gerade ins Krankenhaus, um Sasha Bowlder zu besuchen. Chase hat sie vor allen bloßgestellt, da hat sie sich etwas angetan, und jetzt ist Chase tot. Ich werde verfolgt und fürchte, dass sie mir auch etwas antun wollen … Sogar in ihrem geistigen Selbstgespräch hörte sich das völlig verrückt an. Nein. Sie konnte nichts sagen, noch nicht. Wenn sie erst bei Sasha war, würden sich die Dinge vielleicht etwas klären.
»Bin bloß ein bisschen auf Achse«, antwortete sie vage. »In ein paar Stunden bin ich zu Hause.«
»Fährst du auch schön vorsichtig? Es soll wieder anfangen zu schneien.«
Em presste die Hände ans Lenkrad und versuchte, sich auf die Stimme ihrer Mutter zu konzentrieren. »Ich pass schon auf, Mom.« Beinahe hätte ihre Stimme versagt. »Versprochen. Bis später.«
»Dann ist’s gut, Emily. Hab dich lieb.« Die Worte lagen schwer in Ems Kopf. Als sie auflegte, musste sie an Chases Mutter denken. Sie fragte sich, was Mrs Singer jetzt wohl gerade machte. Wie leer ihr dieser trostlose Wohnwagen vorkommen musste, wenn sie nach Hause kam. Falls sie jemals wieder nach Hause kam. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz schlecht und sie kurbelte trotz der Kälte die Scheibe herunter, um etwas frische Luft zu bekommen.
Die Anlage für betreutes Wohnen, die rund um das Krankenhaus gebaut war, leuchtete gespenstisch, als sie schließlich dort ankam. Sie fuhr auf den nahe gelegenen Besucherparkplatz, auf dem kaum ein Auto stand. Mist. Die Besuchszeit endete hier bereits um vier Uhr nachmittags. Ihre Eltern arbeiteten in einem anderen Krankenhaus – einem der größeren von Portland. Wenn sie ihnen doch bloß erzählen könnte, was los war. Vielleicht wüsste einer von ihnen, was sie tun sollte.
Sie strich sich die Haare, die von der Kälte ganz elektrisch waren, glatt und zupfte an ihrem Wollpullover, der auf einmal total kratzte, als sie in den hallenden Empfangsbereich des Ostflügels marschierte. Es war die Abteilung für die hoffnungslosen Fälle. Hier hatte Ems Großmutter fast zwei Monate gelegen, bevor sie nach einem Schädeltrauma, das sie bei einem Sturz nach einem schlimmen Schlaganfall erlitten hatte, starb. Em erkannte die diensthabende Schwester wieder; es war Carol, die sich auch um ihre Großmutter gekümmert hatte. Weitere Angestellte liefen geschäftig umher, doch der Schalter in der Nähe des Hauptportals, den sie passieren musste, wurde nur von einer Person besetzt. Sie trat von einem Fuß auf den anderen; Krankenhäuser machten sie immer nervös und so drückte sie sich noch eine Weile am Eingang herum.
Sobald sie Carol mit einem Stapel Krankenakten in der Hand durch die Flügeltür verschwinden sah, blickte sie sich rasch um und ging entschlossen auf den Schalter zu. Mit einer einzigen Handbewegung zog sie einen Aktenschrank auf, schob ihn wieder zu und öffnete einen zweiten. Es war erschreckend einfach, an Patientenakten zu kommen. B wie Bowlder. Sasha. Zimmer 17. Sie beförderte die Akte zurück an ihren Platz in der Schublade und steuerte auf die Schwingtür zu. Sie gab sich Mühe, so auszusehen, als gehöre sie hierher. Niemand schien etwas zu bemerken.
Die Geräusche aus dem Schwesternzimmer wurden allmählich leiser, während Em den frisch gescheuerten Flur entlangschlich, der nach Desinfektionsmittel und zugleich muffig roch. Wie Trockenblumen. Wie der Tod. Sie suchte nach Zimmer 17, erst hinter der einen Ecke, dann hinter der nächsten. Sie konnte kaum ertragen, wie still der Gang war und wie laut sich ihre Schritte anhörten, sogar in Turnschuhen. Sie gab sich Mühe, nicht in die Zimmer zu schauen – wo leuchtende Monitore wie böse, Unheil verheißende Kreaturen neben den Betten thronten. Sie überflog die nummerierten Schilder neben den Türen.
Dann war sie da. Nummer 17. Im Gegensatz zu den meisten anderen war diese Tür verschlossen.
Em blieb stehen und blickte kurz hinter sich – niemand da –, bevor sie die stählerne Griffstange herunterdrückte und eintrat.
Das Krankenhauszimmer war klein und dunkel; das einzige Licht kam von den Überwachungsmonitoren neben dem einzigen Bett. Sie piepten, leise, gespenstisch, pausenlos.
Em schwitzte und war ganz rot im Gesicht. Sie nestelte mit zittrigen Fingern an den Knöpfen ihres Mantels, um ihn zu öffnen. Sie hatte nicht gewusst, was sie erwarten würde – sie hatte noch nie zuvor
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