Rachedurst
tap …
Das ist meine Nichte Elizabeth. Der tapferste Mensch, den ich kenne.
Das perfekte Gegenmittel für alles, was in dieser Woche passiert war.
45
Man könnte sich fragen, ob ich keine Angst hatte, Elizabeth in Gefahr zu bringen. Ich hatte darüber nachgedacht und kurz überlegt, unsere Verabredung zu streichen, doch das hätte ihr das Herz gebrochen. Außerdem hatte die Mafia Frauen und Kinder bisher immer verschont. Das war Gesetz.
Also gab es jetzt nur Elizabeth und mich – und wir zogen wie immer bereits die Aufmerksamkeit auf uns.
Ich verstand, dass man uns anstierte. Wer geht schon mit einem blinden Mädchen zum Baseball-Spiel?
Doch sie kapierten es nicht, keiner von ihnen. Es war, als wären sie die Blinden.
Begreift denn das niemand?
Beim Baseball geht es um den Schlag auf den Ball und das Grölen der Menge, um den Geruch von geschnittenem Gras und Hotdogs, um das Knirschen von Erdnussschalen unter den Füßen.
Elizabeth sah das Spiel nicht mit ihren Augen, doch sie genoss es nicht weniger als diejenigen, die es taten. Vielleicht hatte sie sogar noch mehr Spaß daran, weil andere es nur sahen, sie es aber spürte.
Und das schwärmerische Lächeln auf ihrem Gesicht war alles, was ich sehen musste, um mir dessen sicher zu sein.
»Also, wie geht’s Courtney?«, fragte Elizabeth nach dem ersten Inning. Zwischen zwei Innings nämlich hakten wir die meisten Themen ab. Meine Nichte und Courtney waren sich ein paarmal begegnet und bewunderten einander.
»Ich soll dir von Courtney einen Gruß ausrichten«, sagte
ich. Das entsprach auch der Wahrheit. »Wie geht’s deiner Mutter?«, wechselte ich dann rasch das Thema.
»Mama fühlt sich einsam«, antwortete Elizabeth. »Aber sie ist auch hart im Nehmen.«
Wenn ich mit meiner älteren Schwester Kate sprach, hatte ich immer das Gefühl, dass sie mir nicht alles erzählte. Elizabeth andererseits hielt mit nichts hinterm Berg.
»Einsam, ja? Und traurig deswegen?«, fragte ich weiter.
»Ist man das nicht immer, wenn man sich einsam fühlt?«
»Gute Frage.«
»Sie muss jemanden kennenlernen«, sagte Elizabeth. »Wird Courtney übrigens heiraten?«
»Ja, und zwar einen sehr beeindruckenden Mann. Deine Mutter ist doch ein paarmal ausgegangen, oder?«
»Ja, aber nicht besonders oft.«
Ich lachte laut auf. »Es braucht alles seine Zeit, Lizzy.«
»Ja, gut, aber es ist doch schon vier Jahre her, seit er gestorben ist.«
Viereinhalb, um genau zu sein. Mein Schwager war auf einer Geschäftsreise nach London einem Herzinfarkt erlegen. Und das im Alter von zweiundvierzig Jahren. Wer auf dieser Erde lässt so etwas geschehen? Warum? Wer gibt den Befehl dazu?
Kate hatte mich angerufen und mir die Nachricht mitgeteilt. Sie hatte mich auch gebeten, zu ihr nach Weston in Connecticut zu kommen, um ihr zu helfen, Elizabeth davon zu erzählen. Sie hatte es allein nicht geschafft. Elizabeth war neun Jahre alt und blind, und plötzlich hatte sie keinen Vater mehr und ihre Mutter ein großes Loch in ihrem Herzen.
Ich werde nie vergessen, was mich Elizabeth an jenem heißen Augustnachmittag gefragt hatte, während ich auf dem Wohnzimmersofa ihre Hand gehalten hatte. Sie hatte ein gelbes
Sommerkleid getragen, ihr zotteliges, blondes Haar mit einer Reihe Spangen gebändigt. »Kann ich meinen Papa im Himmel sehen?«, hatte sie wissen wollen.
Es war mir kaum gelungen, meine Tränen zurückzuhalten.
»Ja«, hatte ich ihr geantwortet. »Du wirst ihn jeden Tag sehen.«
»Versprichst du mir das?«
»Ja.«
Ich hatte ihre kleine Hand gedrückt, sie hatte den Druck erwidert, während ich an nur eine Sache denken konnte.
Wenn es da oben einen Gott gibt, soll er lieber keinen Lügner aus mir machen.
»Dann los, Onkel Nick«, forderte mich Elizabeth nach einem raschen Schluck von ihrer Limo auf, »erzähl mir alles über Courtney und ihren beeindruckenden Verlobten.«
»Gut, also … sie hat mir das Herz gebrochen«, gab ich schließlich zu.
»Ich weiß«, entgegnete sie. »Das habe ich an deiner Stimme gehört – an der Art, wie du ihren Namen aussprichst. Sie hat dir wirklich das Herz gebrochen. Und damit hat sie auch meins gebrochen.«
Dritter Teil
Wenn einem alles über den Kopf wächst
46
Courtney hatte sich offenbar das ganze Wochenende über in ihre Wohnung an der Upper West Side verzogen. Als sie am Sonntagabend endlich auf einen meiner zahlreichen Anrufe reagierte, überredete ich sie, sie besuchen zu dürfen.
Als sie die Tür öffnete, trug sie
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