Rachedurst
umfassen sollte. »Vor drei Jahren habe ich auf deinem Sofa in dieser furchtbaren Bruchbude kampiert, in der du meine Tochter und meine Enkelinnen zu leben gezwungen hast. Und du wolltest, dass ich ausziehe .«
Das stritt Joe nicht ab.
»Und jetzt schau dich um. Du bist ein Gast in meinem Hause, und deine Familie hat es zum ersten Mal überhaupt behaglich und sicher.«
Er spürte Zorn in sich aufsteigen, vermochte ihn aber zu unterdrücken. Er wollte diesen Streit unbedingt vermeiden, da er sich gegenwärtig für fähig hielt, ihr den Hals umzudrehen.
»Interessant«, setzte sie hinzu und hob spöttisch die Brauen, »wie Situationen sich verändern und Gedachtes und Gesagtes zurückkehren und einen verfolgen kann, oder?«
***
Das Unwetter hatte tatsächlich â wie von Sheriff McLanahan behauptet â alles verändert. In anderen Landesteilen konnte der Regen im Boden versickern und sanft ablaufen, doch hier lag unter einer dünnen Humusschicht wasserundurchlässiger Ortstein, auf den pro Jahr nur zweihundertachtzig Millimeter Niederschlag fielen, gut hundert davon allein an diesem Tag. Das Wasser konnte nicht in den Boden und bildete Seen und Teiche, die es seit Jahren nicht gegeben hatte. Kleine Rinnen und Vertiefungen im Gelände wurden zu Trichtern, durch die braunes Wasser schoss.
Joe fuhr gemächlich den Highway entlang. Das Wasser spritzte unter seinen Reifen in hohem Bogen zur Seite. Der Himmel war grünschwarz gefleckt, und es regnete derart, dass er nicht mal das Radio im Führerhaus des Ranch-Pick-ups hörte. Er hatte nichts zu erledigen und musste eigentlich auch nicht Nates ehemaliges Zuhause aufsuchen, um die Vögel zu füttern, aber er brauchte irgendeine Beschäftigung. Wäre er auf der Ranch geblieben, um über sein Scheitern nachzudenken, während Missy über Fettanteile in der Nahrung und über die Klubs der guten Gesellschaft plapperte, wer weiÃ, vielleicht hätte er dann endgültig die Beherrschung verloren. AuÃerdem wollte er das Gespräch mit Sheridan und Lucy hinauszögern. Ob Marybeth die beiden einweihte und ihnen sagte, sie sollten ihrem Vater gut zureden und nicht sauer oder beunruhigt sein? Hoffentlich nicht. Das wäre das Einzige, was noch schlimmer wäre, als ein Versager zu sein: wenn seine Töchter ihn deshalb bemitleideten.
***
Die StraÃe zu Nate Romanowskis ehemaliger Wohnstätte lag hoch genug, um sie mit zugeschaltetem Allradantrieb zu befahren. Links und rechts der StraÃe jedoch hatten sich lang gestreckte Seen gebildet. Enten schwammen auf Teichen, die vor acht Stunden noch gar nicht existiert hatten. Und Joe hörte Frösche. Frösche, die jahrelang unter der Erdoberfläche verharrt hatten, kamen ans Tageslicht und quakten.
Erstaunlich, welche Erneuerung das Wasser im gebirgigen Westen brachte. Joe wünschte nur, der Regen könnte auch ihn erneuern.
***
Joe erklomm die letzte Anhöhe vor Nates Behausung und sah, dass der Fluss nicht nur über die Ufer getreten war, sondern auch die Stallungen der Falken umspülte und bis an eine Seite der Hütte reichte. Er hatte den Fluss noch nie so groà und gewaltig erlebt: ein echtes Wildwasser mit Brechern, die durch den Canyon rollten. Ausgewachsene Pyramidenpappeln, Rinder, Bruchstücke fortgerissener Brücken trieben flussabwärts. Der klapprige Steg war entweder weggespült worden oder stand vollständig unter Wasser.
Joe parkte oberhalb von Nates Hütte. In kaum einer Stunde würde die Dämmerung hereinbrechen, und bis dahin wollte er die Vögel gefüttert haben und wieder verschwinden. Er stieg aus und zog seine gelbe Regenjacke an. Schwere Tropfen prasselten auf das gummierte Leinen, während er zwei Kaninchen, die dem StraÃenverkehr zum Opfer gefallen waren, aus einem Jutesack wickelte. Ihm war klar, dass er etwas Unsinniges tat. Die Vögel konnten wahrscheinlich warten. Aber er hatte ein Versprechen gegeben und würde es halten.
Der Fluss rauschte mit ehrfurchtgebietender Macht. Joe spürte den aufsteigenden Sprühnebel, lange bevor er das Ufer erreichte.
Er legte die Kaninchen auf eine sandige Erhebung, damit sie aus der Luft gut zu sehen waren. Bisher hatte es nie länger als zehn Minuten gedauert, ehe entweder der Wanderfalke oder der Rotschwanzbussard das Fleisch entdeckte. Joe hatte nie die geringste Ahnung, wo sich die Raubvögel gerade befanden, und
Weitere Kostenlose Bücher