Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
»Was meinen Sie damit?«
»Ich meine, dass ich jahrelang mit einem chronisch Süchtigen und einem Alkoholiker gelebt habe«, sagte sie mit einem geheimnisvollen Lächeln.
Ich war schockiert. Arme Josephine. Wer es wohl war? Einer ihrer Eltern? Ein Bruder? Vielleicht ihr Mann. Vielleicht war sie verheiratet gewesen, bevor sie Nonne wurde.
»Wer war das?«, platzte ich heraus.
Ich erwartete eine förmliche, therapeutenmäßige Antwort, wie: »Das ist keine angemessene Frage, Rachel«, aber es kam anders.
Sie schwieg lange, sehr lange, und sah mich an, bevor sie sanft sagte: »Ich.«
60
E ndlich war mein letzter Tag da. Es war wie Geburtstag, Erstkommunion, Hochzeitstag und Beerdigung in einem. Ich stand im Mittelpunkt und genoss es – die Karte, die Ansprache, die guten Wünsche, die Tränen, die Umarmungen, und immer wieder ertönte: »Ich werde dich vermissen!« Sogar Sadie, die Sadistin, die quirlige Empfangsdame und Finbar, der halbdebile Gärtner, wünschten mir alles Gute. Und Dr. Billings, alle Schwestern, die Therapeuten und natürlich alle Insassen.
Ich hielt die Rede, die jeder hielt, und sagte, dass ich geglaubt hätte, als ich kam, dass mir nichts fehlte, dass mir die anderen leidgetan hätten und so weiter. Und alle juchzten und applaudierten und lachten, und jemand rief – wie jedes Mal einer rief – : »Bestell mir schon mal ein Bier bei Flynns!«
Dann gingen sie alle zu ihren Gruppensitzungen, und ich wartete darauf, abgeholt zu werden. Mit Tränen in den Augen, aber freudig erregt, wehmütig und gespannt. Begierig, mein neues Leben in Angriff zu nehmen.
Ich war fast zwei Monate in Cloisters gewesen und hatte überlebt. In allererster Linie war ich stolz auf mich.
Mum und Dad kamen, und als wir durch das hohe Tor davonfuhren, nahm ich symbolisch meinen Hut ab und senkte mein Haupt im Gedenken an den Tag meiner Ankunft. Mit großen Augen und erwartungsvoll, Ausschau haltend nach berühmten Persönlichkeiten. Das alles schien eine Million Jahre her zu sein, als wäre es einem ganz anderen Menschen passiert.
Was ja in gewisser Weise auch der Fall war.
Abgesehen von meinem kurzen Ausflug zum Zahnarzt hatte ich die Außenwelt seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. Daher war ich auf der Rückfahrt von Wicklow äußerst aufgeregt und kommentierte vom Rücksitz aus alles, was ich sah:
»Oh, guckt mal, ein Briefkasten!«
»Oh, guckt mal, was der für Haare hat!«
»Oh, guckt mal, da steht ein UPS-Paket vor der Tür!«
»Oh, guckt mal, was für ein komischer Bus!«
»Oh, guckt mal, die Frau da kauft eine Zeitung!«
»Oh, guckt mal, habt ihr die Ohren von dem Kind da gesehen? Die sahen aus wie die von Spock!«
Als wir endlich zu Hause ankamen, verlor ich vor Überdrehtheit fast die Bodenhaftung. Beim Anblick der Haustür hätte ich beinahe einen hysterischen Anfall bekommen, eine Tür, durch die ich jederzeit nach Belieben kommen und gehen konnte. Und als ich mein Zimmer sah, musste ich fast sediert werden. Mein eigenes Zimmer! Und kein anderer malt sich darin die Zehennägel an! Mein eigenes Bett. Eine richtige Bettdecke. Die nicht komisch roch. Oder kratzte.
Und ich würde nicht mehr mitten in der Nacht geweckt werden, um siebzig Eier in die Pfanne zu schlagen. Ich konnte den ganzen Tag im Bett bleiben, wenn ich wollte. Und das wollte ich.
Ich rannte immer wieder ins Badezimmer, ein Badezimmer, das ich nur mit vier anderen Menschen teilen musste! Ich fuhr mit der Hand über den Fernseher und freute mich darüber, dass mein Konsum von Schrott-Sendungen allein durch mein Schlafbedürfnis begrenzt sein würde.
Der Staubsauger stand im Flur, und ich blieb einen Moment lang vor ihm stehen und lachte ihn aus. Meine kurze Bekanntschaft mit seinem Bruder in Cloisters war vorbei, und ich würde nie wieder Hausarbeit machen. Wahrscheinlich nie mehr in meinem Leben!
Ich riss die Kühlschranktür auf und musterte all die leckeren Dinge, von denen ich jederzeit essen konnte, was ich wollte. Außer Helens Mousse au chocolat, auf die sie, natürlich, mit Tesafilm zwei Finger geklebt hatte. Ich öffnete die Küchenschränke und suchte nach, suchte nach, suchte nach ...
Und dann war ich plötzlich sehr deprimiert.
Sehr deprimiert. Ich war also wieder draußen.
Na und?
Was konnte ich tun? Ich hatte keine Freunde, ich durfte nicht in den Pub gehen, Geld hatte ich sowieso keins ... Würde der Rest meines Lebens darin bestehen, die Samstagabende zu Hause zu verbringen und mit meiner Mutter Talente,
Weitere Kostenlose Bücher