Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
Talente zu gucken? Und mir ihr Gejammer anzuhören, dass Marti Pellow eigentlich hätte gewinnen müssen und dass er viel besser sei als Johnny Cash?
Und war ich dazu verurteilt zuzusehen, wie mein Vater sich jeden Abend um halb zehn aus dem Sessel stemmte und verkündete: »Also, ich gehe jetzt zu Phelans auf ein Bier«? Und dann mit meiner Mutter oder wer sonst gerade da war zu singen: »Phelans, nichts geht über Phelans ...«
Das Ritual existierte schon seit zwanzig Jahren, aber an meinem ersten Abend zu Hause, als ich mit Dad allein im Zimmer war, hatte ich es vergessen. Und Dad war ein bisschen pikiert, als er ankündigte, in den Pub zu gehen, und ich nicht zu singen anfing. »Wird in New York nicht gesungen?« , fragte er und sah mich mit einem verletzten Kuhblick an. »Singen ist wohl nicht cool genug, was?«
Ich eilte in die Küche. »Mein Gott«, beschwerte ich mich bei meiner Mutter. »Das ist ja schlimmer als in Cloisters. Der Prozentsatz der Verrückten ist höher.«
Doch Mum bat mich um Nachsicht. Sie sagte, Dad sei nach der ersten und einzigen Aufführung von Oklahoma nicht mehr wie früher. »Irgendwie ist es ihm zu Kopf gestiegen«, erklärte sie. »Und jetzt muss er sich damit abfinden, wieder normal zu sein.«
»Aber er hat doch nur im Chor mitgesungen.«
»Trotzdem, er hat sich wichtig gefühlt«, sagte sie weise. »Was soll ich tun?«, murrte ich. Ich langweilte mich und war unglücklich. Dabei war ich erst einen Tag zu Hause. Ich vermisste Cloisters und wünschte mich dorthin zurück.
»Warum gehst du nicht zu einem deiner komischen Treffen?«, schlug Mum fröhlich vor.
Ich hatte vor meiner Abfahrt in Cloisters eine Liste von den Treffen bekommen, aber ich wollte nicht zu den Leuten gehören, die zu »komischen Treffen« gehen. Ich würde keine Drogen mehr nehmen, aber ich würde es auf meine Art tun. Also sagte ich vage: »Vielleicht in den nächsten Tagen.«
Allerdings wollte ich Chris anrufen, aber dazu fehlte mir der Mut. Am Sonntag ging ich vor lauter Langeweile mit in die Messe. Und dann reichte es mir. Kaum war ich zu Hause, nahm ich mit zitternden Händen den Telefonhörer ab und wählte seine Nummer.
Meine Enttäuschung war groß, als jemand – vermutlich Mr. Hutchinson – sagte, dass Chris nicht da sei. Ich hinterließ meinen Namen nicht, da Chris sowieso nicht zurückrufen würde. Dann machte ich das nervenraubende Spielchen am Montag noch einmal durch, aber diesmal war er da.
»Rachel!«, sagte er und klang hocherfreut. »Ich hatte gehofft, dass du anrufen würdest. Wie geht’s denn so?«
»Gut!«, sagte ich und fühlte mich auf der Stelle gut, alles war sonnig und wunderbar.
»Wann bist du rausgekommen?«
»Am Freitag.«
Das müsstest du doch wissen.
»Warst du schon bei einem Treffen?«
»Ehm, nein«, sagte ich ausweichend. »War beschäftigt ...«
Beschäftigt damit, Kekse zu essen und in Selbstmitleid zu schwelgen.
»Du solltest das nicht zu lange aufschieben, Rachel«, sagte er mit sanftem Vorwurf.
»Das tue ich auch nicht, wirklich nicht«, sagte ich hastig. »Wie sieht’s aus, ehm, wollen wir uns mal treffen?«
»Können wir machen«, sagte er. Er klang nicht halb so begeistert, wie ich es mir gewünscht hätte.
»Wann?«, fragte ich.
»Bevor du entlassen wurdest, haben sie dir da nicht gesagt, du sollst dich fernhalten von ... na ja... von allem, ein Jahr lang?«, fragte er. Zuerst dachte ich, er würde das Thema wechseln, aber dann merkte ich, dass es das Thema war.
»Ja«, sagte ich rasch und wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass ich Absichten auf ihn hatte. »Keine Beziehungen mit dem anderen Geschlecht. Passt mir ausgezeichnet«, log ich. »Haben sie dir das auch gesagt?«
»Ja, keine Beziehungen, keinen Alkohol, noch nicht mal Rubbellose! Ich bin ganz erstaunt, dass sie mir nicht vom Atmen abgeraten haben, falls ich meine Sucht auf Sauerstoff übertrage.«
Darüber lachten wir beide lange und laut, dann sagte er: »Wie wär’s mit Mittwochabend? Um halb acht, Stephen’s Green?«
»Großartig!«
Ausgesprochen vergnügt legte ich auf.
Zum Glück gab es kein Gesetz, das mir verbot, mit ihm zu flirten.
61
W eil ich mit Chris verabredet war, entschloss ich mich zur Feier des Tages, mir entweder eine Warmwachsenthaarung der Beine oder einen Friseurbesuch zu gönnen. Beides konnte ich mir nicht leisten – um ehrlich zu sein, ich konnte mir keins von beiden leisten –, also fiel die Entscheidung zugunsten des Friseurbesuchs.
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