Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
fragte sie noch mehr besorgt.
»Jaha«, seufzte ich mit übertriebener Ungeduld.
»Oh, pass bloß auf, Rachel«, sagte Mum mit Sorgenfalten auf der Stirn. »Er hat seiner Mutter solche Qualen bereitet.«
»Wirklich?« Neugier und Angst ließen mich näher an sie heranrücken. »Was hat er denn gemacht?«
»Er hat dauernd Drogen genommen«, sagte sie und sah mir nicht in die Augen. »Und Philomena und Ted haben ein Vermögen ausgegeben für lauter Experten, aber es hat alles nichts genützt. Dann riefen die von seiner Arbeit an und sagten, er sei die Woche überhaupt nicht erschienen. Und er ist schon über dreißig, da können doch seine Eltern nicht noch für ihn sorgen. Und da ist noch etwas...«
»Ich weiß«, unterbrach ich sie. »Er war vor vier Jahren schon einmal in Cloisters. Ich weiß«, wiederholte ich und bemühte mich, besänftigend zu klingen. Sie regte sich plötzlich so auf, und das ging mir ein bisschen zu nahe. »Er hat es mir erzählt.«
»Die arme Philomena hätte beinahe eine Nervenzusammenbruch gehabt«, sagte Mum mit schriller Stimme. Sie war den Tränen nahe. Zeit, sich auf den Weg zu machen. »Und dann wären sie beide in der Anstalt gewesen.«
Ich dachte an die große Frau mit der kräftigen Stimme, die Chris in der Klapsmühle besucht hatte. »Ich fand nicht, dass sie besonders gepeinigt aussah«, sagte ich wegwerfend. »Sie wirkte doch sehr fröhlich.«
»Du urteilst zu schnell...« Mums Stimme kam mir nach. »Du denkst immer, alle sind glücklich, außer dir.«
Mit zitternden Knien, wie ein frisch geborenes Kalb, machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Alles war so fremd und neu, dass ich das Gefühl hatte, ich sei gerade erst zur Welt gekommen.
Obwohl ich nicht zu einem Rendezvous ging und auch gar kein Rendezvous haben durfte, hatte ich das aufregende, prickelnde Gefühl im Magen, als ob ich nie wieder essen könnte.
Alles schien neu und wunderschön. Als erlebte ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Frühlingsabend in Dublin. Es war Flut, das Meer, das ich vom Zug aus sehen konnte, war blau und ruhig. Der Himmel war weit und klar und ganz hell, als hätte man ihn gerade gewaschen. In den Parks grünte alles, auf den Wiesen standen rote, gelbe und purpurfarbene Tulpen. Ich saß im Zug und zitterte vor Ehrfurcht angesichts dieses Wunders.
Fast rannte ich zu Stephen’s Green, um Chris zu treffen. Und da war er auch schon und wartete auf mich. Ich wusste, dass er da sein würde, dennoch war ich verwundert, ihn zu sehen. Er sieht zauberhaft aus, dachte ich mit stockendem Atem, und er steht dort drüben, weil er sich mit mir treffen möchte.
Das Blau seiner Augen blitzte mich aus ungefähr zehn Metern Entfernung an. Und hatte je ein Mann aufregendere Beine gehabt? Er sollte nie etwas anderes tragen als Jeans, dachte ich zerstreut.
Mit abgewandtem Blick überquerte ich die Straße. Dann stand ich neben ihm. Mein Herz klopfte heftig vor Erregung. Wir lächelten beide, verlegen, den Tränen nahe. Nicht sicher, wie wir hier draußen miteinander umgehen sollten.
»Wie geht’s denn so?«, sagte er rau und umarmte mich so unbeholfen, dass ich mich wie in einem Schraubstock fühlte. Spontane Zärtlichkeitsbekundungen fielen uns genesenden Süchtigen nicht leicht, dachte ich mit einem schmerzvollen Gefühl. In der Klinik hatten wir uns ständig in den Armen gelegen, aber hier, im richtigen Leben, ging das nicht.
»Gut«, sagte ich mit unsicherer Stimme und hatte das Gefühl, dass mein Herz mit all den Gefühlen platzen müsste.
»Immer schön ein Tag nach dem anderen«, sagte er mit einem ironischen Lächeln.
»Hier sind wir also«, sagte ich und lächelte unsicher, »wir haben es überstanden, wir haben Cloisters hinter uns gebracht und können der Welt davon berichten.«
Wir hatten das Gefühl, etwas Schreckliches überlebt zu haben, was uns verband. Wie die Überlebenden einer Flugzeugentführung, die sich einmal im Jahr treffen und Erinnerungen an ihre Qualen wieder aufleben lassen.
»Also!«, rief er aus.
»Also«, stimmte ich ihm zu.
Ich wartete, dass er etwas über mein Haar sagte, und als er es nicht tat, fühlte ich mich zunehmend unwohl. War es nicht fürchterlich?
»Fällt dir nichts an mir auf?«, fragte ich unversehens. Nein, nein, nein .
»Hast du dir den Schnurrbart abrasiert?« Er lachte.
»Nein«, murmelte ich verlegen. »Ich habe mir die Haare schneiden lassen.«
»Ach ja, jetzt sehe ich es«, sagte er nachdenklich.
Ich verfluchte mich, weil ich es
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