Rachel im Wunderland: Roman (German Edition)
brauchte, gefiel mir.
Ich fühlte mich stark, ich konnte allein stehen, ohne Stock oder Krücken.
71
D ann kam der Frühling.
Ich suchte mir eine Stelle. Und fand einen Teilzeitjob als Zimmermädchen in einem kleinen Hotel in der Nähe. Der Lohn war so miserabel, dass es für mich wahrscheinlich besser gewesen wäre, ich hätte denen was gegeben. Aber ich war sehr angetan von mir. Es machte mich stolz, pünktlich zu kommen, ordentlich zu arbeiten und irgendwelches Geld, das ich auf dem Teppich fand, nicht zu stehlen, wie ich es früher gemacht hatte. Die meisten anderen Zimmermädchen waren Schülerinnen, die damit ihr Taschengeld aufbesserten. In meinem früheren Leben hätte ich das als unter meiner Würde empfunden, aber jetzt nicht.
»Wie wär’s, wenn du wieder zur Schule gingst?«, regte Jeanie an. Sie studierte im zweiten Jahr Naturwissenschaften. »Vielleicht könntest du studieren, wenn du weißt, was du machen möchtest.«
»Studieren?« Ich war entsetzt. »Das würde doch viel zu lange dauern. Vier Jahre mindestens. Bis dahin bin ich zweiunddreißig. Uralt!«
»Aber du wirst dann sowieso zweiunddreißig sein«, sagte sie völlig zu Recht.
»Was sollte ich denn studieren?«, fragte ich, als das Unmögliche, das völlig Ausgeschlossene plötzlich nicht mehr ganz so utopisch schien. Sondern sogar möglich.
»Das weiß ich doch nicht«, sagte Jeanie. »Woran hast du Spaß?«
Ich dachte darüber nach.
»Also, das alles hier macht mir Spaß«, sagte ich ein bisschen verlegen. »Sucht, Genesung, das, was in den Köpfen der Leute vorgeht, ihre Motive.«
Seit damals, als Josephine sich zu ihrer Sucht und ihrem Alkoholismus bekannt hatte, war mir immer im Kopf herumgegangen, dass ich das, was sie erreicht hatte, auch erreichen könnte.
»Psychologie«, schlug Nola vor. »Oder eine Ausbildung als Therapeutin. Erkundige dich, ruf an.«
Dann kam der vierzehnte April, mein erster Jahrestag. Nola und die anderen Frauen backten mir einen Kuchen mit einer Kerze. Als ich nach Hause kam, hatten Mum und Dad und meine Schwestern auch einen Kuchen gebacken.
»Das hast du großartig gemacht«, sagten sie immer wieder. »Ein ganzes Jahr ohne eine Droge, du bist ganz große Klasse.«
Am nächsten Tag sagte ich zu Nola: »Mein Jahr ist um, jetzt kann ich nach Herzenslust vögeln.«
»Braves Mädchen, dann mal los«, sagte Nola so trocken, dass es mich verunsicherte.
Schon bald verstand ich, was sie meinte, weil ich nämlich niemanden fand, mit dem ich schlafen wollte. Niemanden, auf den ich Lust gehabt hätte. Und das lag nicht daran, dass ich keine Männer kennenlernte. Nicht nur gab es Tausende von Männern bei den NA, sondern ich ging jetzt auch hin und wieder mit Helen und Anna aus. Ausflüge in die richtige Welt, mit richtigen Kerlen, die nicht süchtig waren und auch nicht wussten, dass ich es war. Es war immer eine Überraschung, wenn sie mich abschleppen wollten. Natürlich musste ich ihnen langweilige Erklärungen abgeben, warum ich nicht trank. Aber auch wenn sie begriffen, dass der Versuch, mich betrunken zu machen und dann in ihr Bett zu zerren, aussichtslos war, ließen sie nicht locker.
Ein paar von diesen Typen, die ihr Interesse bekundet hatten, waren sogar attraktiv, trugen schicke Klamotten und arbeiteten mit einer Band oder in der Werbung.
Ich schaffte es eindeutig nicht, meine Befreiung von der unfreiwilligen Keuschheit in vollen Zügen auszukosten. Das Problem lag einfach darin, dass ich jedes Mal, wenn ich mir vorstellte, mit einem dieser Typen zu schlafen, an Luke denken musste.
Der herrliche, aufregende Luke. Aber meine Gedanken verweilten nur eine Sekunde bei der Vorstellung, wie aufregend und herrlich er war, dann musste ich wieder daran denken, wie niederträchtig ich ihn behandelt hatte. Und dann schämte ich mich und wurde traurig. Ganz abgesehen davon, dass ich mich zu Tode fürchtete, weil Nola immer wieder davon sprach, dass ich ihm schreiben und mich bei ihm entschuldigen sollte. Doch dazu waren meine Schuldgefühle zu groß und auch meine Angst, dass er mir sagen würde, ich solle mich verpissen.
»Klär es mit ihm«, drängte Nola mich. »Mach doch, er scheint ein echter Schatz zu sein. Außerdem geht es dir dann viel besser.«
»Ich kann das nicht.«
»Was gefällt dir an den Kerlen nicht, die mit dir gehen möchten?«, fragte Nola mich, nachdem ich ihr eine Stunde lang die Ohren vollgejammert hatte.
»Ach, weiß ich auch nicht«, sagte ich gereizt. »Entweder sind sie
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