Radioactive (Die Vergessenen) (German Edition)
Wie können sie überhaupt dort etwas sichten? Ich dachte, jedes Leben wäre dort aufgrund der Radioaktivität ausgeschlossen. Vorsichtig blicke ich zu A350. Wird sie mir die Wahrheit sagen? Doch ihr Blick ist starr an mir vorbei gerichtet. Ich weiß, dass sie spürt, wie ich sie ansehe, doch sie will darauf nicht reagieren. Sonst war sie immer ehrlich zu mir, warum kann sie es jetzt nicht sein? Habe ich ihr Vertrauen verloren, nur weil ich in der letzten Nacht bei Finn war? Kann ich sie damit wirklich so sehr enttäuscht haben?
Nun ergreift der Arzt das Wort. Über eine Fernbedienung fahren weiße Leinwände vor die großen Fenster und dunkeln so das Zimmer ab. In der Mitte erscheint dreidimensional die Zelle von Finn. Er liegt mit starrem Blick auf seinem Bett, doch die Fesseln sind verschwunden.
„ Nach dem bisherigen Stand der Untersuchungen konnte ich keinerlei Beeinträchtigung seiner Gehirnfunktionen feststellen. Er wirkt jedoch leicht orientierungslos, was auf den Verlust seiner Erinnerung zurückzuführen sein dürfte.“
Untersuchungen? Haben sie ihn etwa ohne mich untersucht? Verletzt starre ich zu A350, doch sie zuckt nicht einmal mit der Schulter. Sie wusste doch, wie wichtig es mir ist, dabei zu sein.
„ Warum habt ihr ihn ohne mich untersucht?“, zische ich ihr wütend zu.
Ohne ihren Blick zu verändern, antwortet sie mir: „Dir ist ab sofort jeglicher Kontakt zu ihm untersagt.“
„ Das könnt ihr nicht machen!“, entgegne ich aufgebracht und balle dabei meine Hände zu Fäusten, um die Tränen zurückzuhalten. Sie sind hier an der falschen Stelle.
„ Es ist sowohl zu deinem als auch zu seinem Besten!“ Sie wirkt vollkommen emotionslos, aber gleichzeitig wagt sie es nicht einmal, mich anzusehen. Dafür hasse ich sie in diesem Moment am meisten.
„ Woher willst du wissen, was das Beste für ihn oder mich ist? Du kennst ihn genauso wenig wie mich.“ Es fällt mir schwer, meine Stimme zu beherrschen, und ich bemerke zu spät, dass jedes andere Gespräch mittlerweile verstummt ist und alle uns beobachten.
A350 hat es lange vor mir bemerkt. Der Blick, den sie mir nun zuwirft, ist schneidend und kalt wie Eis. „Mir ist völlig gleich, was gut für ihn ist. Er ist ein Verstoßener, und wenn es nach mir gegangen wäre, würden wir jetzt seine Asche über der Ebene verstreuen.“
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals zurück und fühle mich, als hätte sie mir vor den Augen aller eine Ohrfeige verpasst. Wie kann sie nur so grausam sein? Ich dachte, sie wäre meine Freundin.
A489 räuspert sich betont laut. „Dürften wir jetzt fortfahren, A518? Glaubst du, dass du es schaffen wirst, deinen Mund zu halten? Oder möchtest du lieber den Saal verlassen?“
Ich starre ihm voller Wut entgegen und blicke mich in dem Saal um. Niemanden interessiert mein Schmerz. Ganz im Gegenteil, sie wirken alle eher genervt von mir und der Unterbrechung. Das ganze Thema ist für sie nur ein Punkt auf ihrer Tagesordnung, den es abzuarbeiten gilt. Mein Herz zieht sich in mir zusammen. Wie können sie nur so gefühllos sein? Vielleicht hatten die Rebellen recht und es gibt wirklich keine Heilung für sie? Jedenfalls für die meisten. Mein Blick bleibt an A566 hängen. Er zwinkert mir zu. Sollte er sich als mein einziger Freund herausstellen? Für einen Moment vergesse ich D560s Warnung und bin nur dankbar für seine Geste.
Der Arzt fährt fort: „Ich halte es für unnötig, ihn weiter auf der Krankenstation festzuhalten. Er sollte so schnell wie möglich in den normalen Tagesablauf eingegliedert werden.“
„ Haben sie eine Empfehlung für die Klassifizierung?“
„ Er hat nie Bildungsunterricht oder Kampftraining genossen, sodass ein Einsatz nur als Helfer möglich sein wird. Und selbst das ist schwierig, da die meisten Abläufe ihm vollkommen fremd sind.“
„ Er könnte putzen. Das kann jeder“, mischt sich nun A566 grinsend ein. Die Art, wie er es sagt, gefällt mit nicht. So als wäre Finn nicht mehr wert oder schlicht dumm.
„ In der Tat halte ich einen Einsatz in der Putzeinheit für angemessen“, stimmt ihm der Arzt zu. „Er benötigt eine Bezeichnung der fünften Generation.
A489 wendet sich zu A233. „Gibt es eine freie Bezeichnung?“
A233 wirft einen Blick auf den tragbaren Monitor vor sich. „Die Nummer 577 ist derzeit unbesetzt.“
Wie kann eine Bezeichnung unbesetzt sein? Was ist mit dem ehemaligen Besitzer geschehen?
„ Also ist es beschlossen, der Verstoßene wird zu
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