Rächende Geister
belassen?«
»Kannst du das nicht?«
»Nein.« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Manchmal ist mir, als wüsste ich, was sie empfunden hat. Sie war sehr unglücklich, das weiß ich jetzt, Hori. Sie wollte uns wehtun, weil sie so unglücklich war.«
»Das kannst du nicht wissen, Renisenb.«
»Nein, natürlich nicht mit Bestimmtheit, aber ich fühle es. Das Elend, die Bitterkeit, der glühende Hass… das sah ich alles auf ihrem Antlitz geschrieben, aber ich begriff es damals nicht! Sie muss einen Mann geliebt haben, und dann hat sie ihn nicht bekommen… vielleicht ist er gestorben oder fortgezogen. Dadurch ist sie so grausam geworden. Sie wurde das Weib eines alten Mannes, meines Vaters, sie kam hierher, und wir liebten sie nicht, und sie wollte uns ebenso unglücklich machen, wie sie unglücklich war… ja, so war es!«
Hori betrachtete sie neugierig. »Du scheinst deiner Sache sehr sicher zu sein.« Dann fragte er ruhig: »Du glaubst nicht, dass Nofret durch einen Unfall umgekommen ist, nicht wahr? Du denkst, jemand hat sie hinuntergestoßen, ist es so?«
Leidenschaftlich wehrte Renisenb ab, als sie ihre Meinung in Worten ausgedrückt hörte: »Nein, nein, sag das nicht!«
»Ist es nicht wahr, Renisenb?«
»Ja, es ist wahr.«
Hori senkte den Kopf.
»Und du glaubst, dass Sobek es getan hat?«
»Wer sonst hätte es gewesen sein können? Erinnerst du dich an die Schlange und an seine Worte, als er damals aus dem Haus lief?«
»Ja, ich erinnere mich. Aber nicht immer tun diejenigen Menschen am meisten, die am meisten sagen.«
»Doch du glaubst auch, dass sie getötet wurde?«
»Ja. Aber das ist nur ein Verdacht, Renisenb. Ich habe keinen Beweis. Es wird wohl auch nie bewiesen werden. Deshalb habe ich Imhotep zugeredet, den Urteilsspruch zu unterzeichnen, dass es ein Unfall war. Jemand hat Nofret hinuntergestoßen, aber wir werden nie erfahren, wer es war.«
»Du meist also nicht, dass Sobek es war?«
»Ich glaube es nicht. Aber wie gesagt, wir werden es nie erfahren – darum ist es am besten, nicht mehr darüber nachzudenken.«.
»Wenn nicht Sobek – wer war es dann?«
Hori schüttelte den Kopf.
»Vielleicht irren meine Gedanken sich… darum ist es besser zu schweigen.«
»Aber dann werden wir es nie wissen!«, rief Renisenb bestürzt.
»Vielleicht…« Hori zögerte. »Vielleicht ist es das beste.«
»Nichts zu wissen?«
»Nichts zu wissen:«
Renisenb schauderte.
»Aber dann… o Hori, ich fürchte mich!«
11
Erster Monat des Sommers – 11. Tag
D ie letzten Zeremonien waren beendet, die Beschwörungen gesprochen. Montu, ein Priester des Hathortempels, ergriff den Besen und fegte sorgfältig die Kammer aus, indes er den Zauberspruch murmelte, um die Fußspuren aller bösen Geister zu entfernen, ehe die Tür für immer geschlossen wurde.
Dann wurde das Grab versiegelt, und alle Überreste von der Arbeit der Einbalsamierer – Töpfe und Tücher – wurden in eine kleine benachbarte Kammer gebracht, die man ebenfalls versiegelte.
Imhotep straffte die Schultern, holte tief Atem und entspannte seine Begräbnismiene. Alles war nach Vorschrift gelaufen. Er tauschte Höflichkeiten mit den Priestern aus, die nun auch wieder ein weltliches Gehaben annahmen.
Alle gingen zum Haus hinunter, wo ihrer Erfrischungen harrten. Die Männer blieben beisammen und sprachen miteinander.
Renisenb blickte auf die Klippe und die versiegelte Grabkammer zurück. Sie fühlte sich erleichtert, als wäre etwas, wovor sie sich gefürchtet hatte, doch nicht eingetroffen. Nun war alles zu Ende, ohne dass in letzter Minute eine Anklage erhoben worden war.
»Alles zu Ende«, murmelte sie vor sich hin.
»Hoffentlich, Renisenb, hoffentlich«, sagte Henet leise neben ihr.
Renisenb drehte ihr den Kopf zu.
»Was meinst du damit? Hat mein Vater dich gefragt, was du über Nofrets Tod denkst?«
»Gewiss, zumal er wusste, dass ich mit meinen Gedanken nicht hinterm Berg halten würde.«
»Und was sagtest du zu ihm?«
»Nun, natürlich sagte ich, es sei ein Unfall gewesen. Du glaubst doch wohl nicht, sagte ich, dass einer deiner Familienangehörigen der Frau ein Leid angetan hätte? Das würde niemand wagen. Dazu haben alle viel zu viel Achtung vor dir. Sie murren vielleicht, sagte ich, aber das ist auch alles.« Henet nickte kichernd.
»Und mein Vater glaubte dir?«
Wieder nickte Henet recht befriedigt.
»Oh, deinem Vater ist klar, wie ergeben ich ihm bin. Er weiß meine Dienste zu schätzen. Ach, ich
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