Raecher des Herzens
auf dem unebenen Boden kündigten die Ankunft einer Kutsche an. Noch bevor der Kutscher die Pferde zum Stehen gebracht hatte, erschienen weitere Wagen. Bald hatte sich ein ganzes Sammelsurium von Fuhrwerken auf der Wiese eingefunden. Bequeme Reisekutschen, Mietdroschken und sogar offene Sportwagen standen unter den Bäumen. Männer stiegen aus und spazierten durch das feuchte Gras. Lautstark tauschte man Begrüßungen aus, und bald wurden überall Wetten abgeschlossen. Im Licht der ersten Sonnenstrahlen blitzte eine Flasche auf. In der Luft mischte sich der scharfe Schweißgeruch der erhitzten Pferde mit den kräftigen Aromen von Whiskey, Zigarren und zertrampeltem Wintergras.
»Dort drüben ist Monsieur de Silva«, raunte Suzette. Sie nickte zu einer schwarzen Kutsche mit gelben Zierstreifen hin, aus der gerade vier Männer stiegen.
Rio und seine Begleiter gingen zu den Eichen, wo sein Kontrahent samt Sekundanten und Wundarzt ihn schon erwartete. Zwei Männer aus jeder Gruppe stellten sich etwa in der Mitte zwischen den beiden größten Eichen auf und schienen etwas zu besprechen. Dann warf einer eine Münze und man rief einander Anweisungen zu. Rio nahm seine Position an einem Ende der festgelegten Bahn ein. Er stand mit dem Gesicht zur Mietkutsche. Pasquale drehte Celina und Suzette den Rücken zu. Nun zogen die Männer ihre Mäntel und Westen aus. Sie legten die Krawatten ab und weiteten die Hemdkragen, um besser atmen zu können.
»Sie sehen aus, als wären sie gleich stark«, sagte Suzette mit tonloser Stimme.
Derselbe Gedanke war Celina soeben auch durch den Kopf gegangen. Die beiden Männer waren einander in Größe und Körperbau recht ähnlich. Sie hatten breite Schultern, schmale Hüften und die kräftigen Muskeln von Männern, die jede Woche viele Stunden mit Fechten zubrachten. Doch im Gegensatz zu Rio war Pasquale unverletzt und bestens in Form, während Ersterer den Oberkörper mit einer kaum wahrnehmbaren, aber doch vorhandenen Steifheit bewegte.
Die Vorbereitungen zogen sich noch über einige Minuten hin. Zwischendurch trug Olivier die von Rio abgelegte Kleidung zu seiner Kutsche. Dann wandte er sich wieder der Kampfbahn zu, deren Begrenzung die Sekundanten gerade mit Kalk ins Gras gezeichnet hatten. Suzette warf Celina einen fragenden Blick zu. Diese nickte. Die Zofe sprang aus der Kutsche und rannte zu Olivier. Es gelang ihr, ihn noch zwischen den Wagen einzuholen und dort - durch die Räder vor neugierigen Blicken verborgen - mit ihm zu sprechen. Ganz vertraut steckten die beiden die Köpfe zusammen.
Celina kam sich wie ein Eindringling vor, als sie ihre Zofe und Olivier dabei beobachtete. Sie lehnte die Stirn an den Fensterrahmen. Durch den schmalen
Schlitz zwischen dem Holz und dem Ledertuch hindurch konnte sie sehen, dass die Zuschauer die Kontrahenten wie Rassepferde, die zum Verkauf standen, mit Blicken abschätzten. Man diskutierte offenbar die verschiedenen Fechtstile, konnte sich nicht einigen, wem bessere Chancen einzuräumen waren, und schloss dennoch weitere Wetten ab. Offenbar hatte niemand Skrupel, sich einen Kampf anzusehen, bei dem einer der Akteure womöglich sein Leben ließ. Celina schloss die Augen. Ihr war ein wenig übel geworden.
Die Menge der Zuschauer schwoll beständig an. Offenbar war es eine große Attraktion, zwei Fechtmeister beim Duell erleben zu können. Gerade kam wieder eine Kutsche an. Celina hob den Blick. Die füllige Gestalt, die sich aus dem reich verzierten Gefährt stemmte, erkannte sie sofort. Ungeachtet aller Proteste bahnte sich der Mann rücksichtslos einen Weg durch die Menge. Die eigenwillige Kombination aus einem grünen Mantel, einer gelben Weste und karierten Hosen, in die er sich gezwängt hatte, wollte in Celinas Augen nicht so recht zu dem ernsten Anlass passen. Mit großer Geste zog der Spanier seine Brieftasche hervor. Aus den weit aufgerissenen Augen des Mannes, der den Geldbetrag in Empfang nahm, schloss Celina, dass der Graf einen gewaltigen Wetteinsatz gewagt hatte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit dem Kampfplatz zu. Als er Pasquales Blick auffing, deutete er eine Verbeugung an. Rio aber ignorierte er.
Graf de Lerida war gekommen, um sich das frühmorgendliche Spektakel anzusehen, und offenbar erwartete er, dass sich die Dinge ganz nach seinem Geschmack entwickeln würden.
»Mademoiselle Vallier? Verzeihen Sie die Störung. Aber ich würde Ihnen gern meine Dankbarkeit ausdrücken.« Olivier stand an der Tür der Kutsche.
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