Raecher des Herzens
Vallier mochte ihm für die Einladung in sein Studio dankbar sein, aber sicher schätzte er es nicht, wenn man ihm Ratschläge gab, wie er seine Schwester schützen sollte.
Rio umkreiste den Saal. Hier und da blieb er stehen und wechselte ein paar Worte mit einem Kunden oder einem anderen Maitre d’Armes. Auf diese Weise gelang es ihm, Celina stets im Auge zu behalten. Drei Stunden lang bewachte er sie auf diese Art und hatte längst festgestellt, dass sie sich ihre Tanzpartner genau aussuchte. Die meisten Aufforderungen lehnte sie mit einem Lächeln ab. Anderen entging sie, indem sie am Arm ihres Bruders am Rand der Tanzfläche entlangspazierte. Erwies sie jedoch einmal einem Galan die Ehre, dann nur Denys oder einem der jungen Männer, die offensichtlich mit ihm befreundet waren.
Celina tanzte gern, das sah man ihr an. Mit fließenden Bewegungen folgte sie dem Takt der Musik. Dabei passte sie sich mühelos den Bewegungen ihres jeweiligen Partners an. Hinter der Maske glänzten ihre Augen vor Wonne. Rio lehnte an einem Pfeiler und beobachtete sie. Einen atemlosen Augenblick lang stellte er sich vor, der Tänzer zu sein, der sie in den Armen hielt. Dann würden sich ihre Leiber im selben Takt bewegen, sie würde dem Rhythmus folgen, den er vorgab, und sich dabei ganz in seine Hand geben. Noch bevor der Tanz zu Ende war, musste Rio zur Abkühlung einen Abstecher auf den Balkon machen.
Kurz nach elf Uhr erschien der Graf. Der beleibte Nobelmann ließ sich von einem Diener Hut, Mantel und Stock abnehmen. Er wurde von zwei Gentlemen begleitet, die Rio aufgrund ihrer Maskierung nicht erkannte. Außerdem befand sich Aristide Broyard in der kleinen Gesellschaft. Er war ein Mahre d’Armes von zweifelhaftem Ruf. Zufällig lag sein Studio genau gegenüber von
Rios Fechtschule. Broyard pflegte einen sehr extravaganten Fechtstil und ließ sich keine Gelegenheit zu einem Duell entgehen. Er prahlte gern mit der Zahl der Toten, die er auf dem Feld der Ehre hinterlassen hatte, und galt zu Recht als übellauniger Zeitgenosse von hitzigem Temperament. Schmal von Gestalt und eher mittelgroß hatte er doch auffallend lange Beine, die ihn ein wenig schlaksig wirken ließen. Als hoffe er, damit von seinen körperlichen Unzulänglichkeiten ablenken zu können, trug er meist kompliziert geknotete Krawatten und reich bestickte Westen. Sein langes, dunkles Haar frisierte er sich unter großzügiger Verwendung von Pomade aus dem Gesicht. Außerdem trug er einen spitzen Kinnbart. Broyards Studio erfreute sich großer Beliebtheit. Seinen Schülern brachte er allerhand raffinierte Finten hei. Anstrengende Übungen, die viele Wiederholungen erforderten, die Muskeln stählten und die Instinkte schärften, schätzte er weniger. Auch pflegte er keinen freundschaftlichen Umgang mit anderen Fechtmeistern. Er sah sie als Konkurrenten, die es auszubooten galt. In der Stadt wurde er hinter vorgehaltener Hand als unersättlicher Casanova beschrieben, bei dessen Eroberungen gelegentlich auch Erpressung oder Nötigung im Spiel waren. Eine junge Frau aus gutem Hause hatte sich nach einer Affäre mit ihm vergiftet. Broyard schwor, sie sei ohnehin labil gewesen und hätte mit an Hysterie grenzender Verzweiflung reagiert, als er die Liaison beendete. Andere sagten, sie habe sich aus Scham das Leben genommen. Die Affäre mit dem Fechtmeister sei sie nur eingegangen, weil sie gehofft hatte, damit ihren jungen Ehemann vor einem Duell mit ihm schützen zu können.
Wie kam der Graf von Lerida dazu, sich gerade mit Broyard einzulassen? Rio legte nachdenklich die Stirn in Falten. Gleichzeitig überlegte er, was die unverhoffte Ankunft ihres Bräutigams wohl für Celina bedeutete. War dies ein arrangiertes Rendezvous unter den wachsamen Augen ihres Bruders, damit sich das Paar vor der Hochzeit noch ein wenig besser kennen lernen konnte? Oder wollte Celina von ihrem Zukünftigen lieber nicht auf dem Ball gesehen werden? Und wenn dem so war -würde der Graf sie hinter ihrer Maske erkennen? Rio hatte sie damit nicht hinters Licht führen können. Aber er war es auch gewohnt, sich nicht von Äußerlichkeiten ablenken zu lassen. Stets suchte er nach dem verborgenen Wesen einer Person, nach versteckten Hinweisen, die nicht nur beim Fechten den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen konnten.
Der Graf unterstrich mit dem Kostüm, das er gewählt hatte, seine spanische Herkunft. Er trug eine auffällige andalusische Festtracht. Den schmalen Hüften eines Reiters
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