Rapunzel auf Rügen: Roman (German Edition)
warf die Antidepressiva über den Tisch wieder zu Claudia. »Du zuerst.«
»Hallo?«, sagte Claudia und schob die Tablettenschachtel zurück. »Ich bin doch nicht die Kokskranke.«
Ortrud, die seit Harrys Beerdigung mit der Trauerbewältigung begonnen hatte und seither schwarz gekleidet ging, füllte Milch in ein Glas. »Hier, zum Runterspülen.«
Alle starrten auf Sarah, inklusive mir.
»Nun glotzt mich doch nicht alle so an, als sei ich ein Kind, das man kontrollieren muss.«
»Kokser sind schlimmer, also rein damit!«, erwiderte Claudia, während sie mit ihren Fingernägeln ungeduldig auf den Tisch trommelte.
Gerade als Sarah sich eine Tablette auf die Zunge legen wollte, hupte es.
»Das ist Hendrik«, sagte ich beiläufig, am Tee nippend.
Er kam in Gummistiefeln hereingestapft und legte ebenfalls eine Medikamentenschachtel auf den Tisch.
»Hier«, sagte er zu Sarah. »Die werden das Bedürfnis nach Koks in deinem Kopf ausschalten. Sind die Besten, die es dafür gibt.« Er blickte zur Kaffeemaschine. »Noch ein Schluck drin?«
»Klar doch«, sagte ich, mich an ihn schmiegend. Er duftete nach Schafsbock mit einem Hauch vom morgendlichen Aftershave. Ich drückte ihm einen Kuss auf die Wange, griff eine saubere Tasse aus dem abgewaschenen Geschirr und goss ihm einen Kaffee ein.
Ortrud nahm derweil die Packung ins Visier. »Darf nur auf ärztliche Anweisung eingenommen werden«, murmelte sie vor sich hin.
Hendrik nickte, während er trank. Dann blickte er Sarah an und fragte: »Irgendwelche Allergien?«
Sie verzog ihren Mund und zuckte mit den Schultern. »Glaub nicht.«
»Gut. Dann weise ich hiermit an, alle zwölf Stunden eine Filmtablette einzunehmen.« Dabei zwinkerte er Claudia zu und stellte seine Tasse aufs Küchenbüfett. »Ich muss dann mal wieder«, sagte er, umarmte mich und verschwand.
»Ich glaube nicht, dass ein Tierarzt Antidepressiva verordnen darf«, klugscheißerte Sarah, um sich vor der Einnahme zu drücken.
»Stimmt!«, sagte Ortrud. »Wir können deine Psyche auch gerne in einer Spezialklinik behandeln lassen. Was hältst du von der Klapsmühle am Rande von Garz?«
»Oder doch lieber die in Berlin?«, fügte ich fragend hinzu. Ich wusste ebenso gut wie die anderen, dass Sarah ohne Medikamente keine Chance haben würde.
Sarah äugte ängstlich in die Runde. Ihre Finger umklammertendas Medikament, das ihren Wunsch nach Drogen unterbinden könnte. »Und ich werde mich charakterlich nicht verändern? Ich meine, nur noch apathisch rumhängen oder so?«, fragte sie mit gesenktem Kopf.
»Mensch, Sarah, du bist eine verdammt gute Servicekraft. Das hat selbst Brömme gesagt. Mach es nicht kaputt, hörst du?«, sagte Claudia und schob ihr das Glas Milch zu, das Ortrud eingeschenkt hatte.
»Okay, ich mach’s!« Sarah schluckte die Tablette und trank nach. »Und?«, fragte sie. »Ist irgendwas an mir anders?«
»Klar! Deine Zukunft hat sich gerade verbessert.« Ortrud lachte, stand auf und beugte sich über Sarah, um sie zu drücken.
Claudia und ich taten das ebenfalls, was wiederum Sarah zu Tränen rührte. »Wisst ihr was?«, schluchzte sie. »Ihr seid die nervigsten Nervensägen, die man sich wünschen kann.«
Der darauffolgende Arbeitstag …
Nachdem auch der letzte Trauergast die Friedhild verlassen hatte, machten wir uns gemeinsam ans Aufräumen. Brömme nickte uns zufrieden zu und wünschte uns einen schönen Feierabend. Er hatte es an diesem Tag besonders eilig, vom Schiff zu kommen.
Ortrud blickte ihm hinterher und grinste. »Er will nach Putbus, zu Rosis Blumenstand«, flüsterte sie mir zu.
Ich musste schmunzeln. »Brömme hat eine heimliche Freundin?«
»Nicht doch! Rosi ist seine in Trennung lebende Frau. Die beiden haben sich wieder versöhnt, wie man munkelt.«
»Ach so!«, sagte ich etwas enttäuscht. Irgendwie war dasweniger interessant als der Gedanke, dass Brömme inmitten einer Midlife-Crisis steckte und wahllos Marktschreierinnen anflirtete. Ich stellte mir die Frage, wie Ortrud immer an solche gemunkelten Informationen kam. Wo bitte munkelt man auf Rügen? Am Kiosk, vor dem Hafen? Oder war die Muglitzer Bäckerei der Munkel-Umschlagplatz?
Ich schüttelte ahnungslos meinen Kopf. »Was du immer so alles mitbekommst.«
Aber Ortrud gab ihre Quellen nicht preis und winkte nur ab. »Eure Generation hat eben keine Fühler für so was.«
Aha! Ortrud hatte also ein spezielles Gen für Dinge, die eigentlich geheim waren. Sie hätte Karriere gemacht, wenn die Mauer
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