Raum in der Herberge
„Du bist eine erwachsene Frau und ich mache dir selbstverständlich
keine Vorschriften. Aber als Hospitalero oder Hospitalera muss man, bei allem
was man tut, immer auch den Ruf der Herberge im Auge haben. Und wie gesagt —
Molina ist klein.“
Mit
rund 700 Einwohnern ist Molinaseca oder Molina, wie es die Einheimischen
nennen, zwar gut doppelt so groß wie Azofra. Aber hier wie dort kennt jeder
jeden und fast alle im Ort sind verwandt oder verschwägert. Spätestens nach
drei Tragen war ich ebenfalls bekannt wie ein bunter
Hund im Ort, was auch daran lag, dass Alfredo mich an meinem ersten Abend auf
einen Zug durch die Gemeinde mitgenommen und überall vorgestellt hatte. Bei
dieser Gelegenheit hatte er mir gleich gezeigt, wo ich frühstücken, mittag- und abendessen könnte.
Ich
würde für die nächsten vierzehn Tage als Hospitalera in der Herberge arbeiten,
erklärte er in den jeweiligen Lokalen. Deshalb bräuchte ich für meine
Verköstigung nichts zu bezahlen, die Rechnung solle an ihn gehen und er würde
das über die Gemeinde ausgleichen.
Diese
Regelung fand ich sehr praktisch, ließ sie mir doch die Freiheit, selbst zu
entscheiden, wann, wo und was — und mit wem ich essen wollte.
Molinaseca
liegt im Bierzo, einer für ihren Weinbau und ihre Agrarprodukte bekannten
Region im Westen der Provinz Kastilien-León. Die Pilger erreichen den Ort nach
einer anstrengenden, langen Wanderung über die einsamen Montes de León, die Leóneser Berge, eine Etappe, die mit einem steilen
Abstieg endet, sodass viele keine Lust mehr haben, noch weiter zu gehen.
Außerdem lohnt es sich, in Molinaseca zu bleiben, einem Bilderbuchörtchen mit
schönen alten Herrenhäusern und romantischem Flair, malerisch am Fluss Meruelo gelegen, der im Sommer zu einem Naturschwimmbad
aufgestaut wird — eine Art spanisches Rothenburg ob der Tauber. Doch der
verträumte Eindruck, den man beim Betreten des Ortes über die romanische
Steinbrücke haben mag, täuscht, in Molina kann es sehr lebhaft zugehen.
Wie
in Azofra gab es hier zwei Tante-Emma-Läden und eine Apotheke, dazu aber etwa
ein halbes Dutzend Gasthöfe und Casas Rurales, ländliche
Frühstückspensionen, ein halbes Dutzend Restaurants — und vor allem rund
dreißig Bars. Letztere waren oft nicht mehr als ein Kellergewölbe mit einfachem
Tresen, an dem Bierzo-Wein ausgeschenkt wird, und sie hatten nur am Wochenende
geöffnet. Aber gerade dann war Molina ein bevorzugtes Ausflugsziel vor allem
von jungen Leuten aus der näheren und weiteren Umgebung — ab Freitagabend
steppte in den engen Gassen von Molina sozusagen der Bär.
Etwa
einen halben Kilometer außerhalb des Ortes an der Straße nach Ponferrada lag Molinasecas Pilgerherberge, eingerichtet in einer
ehemaligen Eremitage, einer Wallfahrtskirche. Der Umbau für die neue
Nutzung wurde seinerzeit recht geschickt vorgenommen, sodass der Charakter des
Gebäudes erhalten blieb.
Breite
Steinstufen, auf denen früher die Gläubigen während der Messe saßen, führten
hinab in den Aufenthaltsraum der Herberge mit Kochstelle, Esstischen und einem
großen Kamin in der Mitte. Am Ende des Raumes lagen die Duschen und Toiletten,
jeweils separat für Männer und Frauen, im Gang dazwischen befanden sich
Münzwaschmaschine und — trockner.
Der
Schlafsaal auf einer eigens dafür eingezogenen
hölzernen Zwischendecke wurde über zwei Treppen erreicht und hatte Betten für
26 Pilger. Weitere vier konnten bequem auf Matratzen unten im Aufenthaltsraum
schlafen. In Notfällen wurden dort zuweilen noch mehr Matratzen ausgelegt, was
dann aber ausgesprochen eng und unbequem für alle Beteiligten war.
Türen
gab es in dieser Albergue nur vor den Waschräumen — ansonsten war alles offen.
Das bewirkte einerseits eine besondere Atmosphäre von Gemeinschaftlichkeit, bot
andererseits aber keinerlei Möglichkeit zum Rückzug. Ein Mangel an Intimsphäre,
der mir als Hospitalera bald schwer zu schaffen machte, denn ich hatte wie
gesagt kein eigenes Zimmer. „Ach, das geht schon in Ordnung“, meinte ich
blauäugig, als Alfredo mich bei meinem Vorstellungstelefonat auf diese
Besonderheit der Herberge hinwies. Schließlich hatte ich während meiner
Pilgerreise fast ausnahmslos in Herbergsschlafsälen übernachtet und war gut
damit klargekommen. Doch es macht einen großen Unterschied, ob man unterwegs
ist oder fest an einem Ort bleibt. Als Pilgerin ging ich tagsüber weite
Strecken allein und hatte abends Lust auf Gesellschaft. Außerdem war ich
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