Raum in der Herberge
möglichst bis acht Uhr alle Pilger draußen waren. Dann begann ich, den
Schafsaal herzurichten. Von Azofra auf deutsche Pingeligkeit getrimmt, musste
ich mich erst daran gewöhnen, dass die Laken hier nur in größeren Zeitabständen
gewechselt wurden.
„Das
machen wir insgesamt, wenn wir einen besonders sonnigen Tag haben. Dann können
wir sie alle waschen und sie sind trocken, bis die Pilger kommen“, dämpfte
Alfredo gleich zu Anfang meinen diesbezüglichen Eifer.
Also
— Laken nur glatt ziehen, Kissen aufschütteln, trotzdem fanden die Pilger die
Albergue sauber und gepflegt, was meine Theorie vom „Auswildern“ wieder einmal
bestätigte. Molinaseca liegt im letzten Drittel des Jakobsweges. Wer hier
ankommt, hat — sofern er nicht später in den Camino eingestiegen ist — bereits
rund 500 Kilometer und an die zwei Dutzend Herbergen hinter sich, da nimmt man
die Dinge nicht mehr so genau.
Nach
dem Saubermachen, wobei Alfredo wie gesagt einen Gutteil übernahm, fuhren wir
entweder zusammen nach Ponferrada, um das stets rasend schnell aufgebrauchte
Toilettenpapier und andere Dinge für die Herberge einzukaufen — oder ich hatte
frei. Meist war es dann schon gegen elf Uhr und damit blieben mir genau zwei
Stunden als die einzige Zeit am Tag, die mir ganz allein gehörte. Für
gewöhnlich setzte ich mich während dieser kostbaren zwei Stunden
stillschweigend in eine Cafeteria und war für niemanden ansprechbar. Oder ich
zog mich in die Herberge zurück, las, schrieb Tagebuch, hörte Musik aus dem
Walkman und genoss es einfach nur, allein zu sein.
Um
eins schloss ich die Herberge auf, stellte meinen kleinen Tisch mit dem Buch,
in das ich — wesentlich genauer als in Azofra — die Daten der Pilger eintrug,
vor die Tür und harrte der Menschen, die da kommen sollten. Meist brauchte ich
nicht lange zu warten. Ich konnte die Pilger schon die Straße vom Ort herunter
kommen sehen, entweder munter forschen Schritts oder schleppend mit letzter
Kraft, und schätze danach im Voraus ein, ob sie lediglich einen Stempel haben
und ins sechs Kilometer entfernte Ponferrada weitermarschieren wollten oder ob
sie bleiben würden.
„Hola, que lengua hablas — español , francés , inglés , alemán ? Hallo, was sprichst du — spanisch, französisch,
englisch, deutsch?“, lautete stets meine Begrüßungsfrage, um je nach Antwort in
der entsprechenden Sprache weiterzureden. In der Regel bekam ich dafür sofort
Sympathiepunkte von den Pilgern.
„Das
ist ja wundervoll, hier können wir mit jemand in der Sprache unserer Vorfahren
sprechen“, freute sich ein deutschbrasilianisches Ehepaar. Nils und Adriana
wollten sich in der Heimat ihrer Väter, in Deutschland, eine Zukunft aufbauen
und sahen den Camino als guten Auftakt, um im wahrsten Sinne des Wortes in Europa
Fuß zu fassen. Außerdem waren sie noch nicht lange verheiratet, die Pilgerreise
quasi ihre zweiten Flitterwochen.
„Warum
sind eigentlich so viele Brasilianer auf dem Jakobsweg?“, wollte ich von den
beiden wissen.
„Och,
wir Brasilianer pilgern einfach gern“, erklärte Nils. „Man könnte es geradezu
einen Volkssport nennen. Manchmal werden sogar ganze Autobahnteilstücke für
Wallfahrten gesperrt.“
„Und
wegen Paulo Coelho natürlich“, ergänzte Adriana, „sein Pilgertagebuch ist in
Brasilien ein Bestseller.“
Nicht
nur dort. Ich hatte das Buch ebenfalls gelesen als Einstimmung für meinen
eigenen Pilgerweg und es anfangs als mystizistischen Quark abgetan. Nach meinem
Camino las ich es noch einmal und sah es nun wesentlich differenzierter.
Schließlich hatte ich selbst erfahren, wie der Jakobsweg den Blickwinkel auf
das Leben und das eigene Bewusstsein ändern kann. Allerdings machte ich in
Coelhos Buch beim zweiten Lesen eine Reihe geografischer Ungereimtheiten aus.
Ohnehin herrschen bei altgedienten Hospitaleros
Zweifel, ob der Autor den Camino tatsächlich selbst gegangen sei, bevor er sein
so genanntes Pilgertagebuch schrieb.
„Keiner
hat ihn je unterwegs gesehen“, meinte Alfredo dazu. „Shirley MacLaine schon,
die ist hier vorbei gekommen.“ Nach dem Erfolg seines Buches war Paulo Coelho
allerdings öfters am Camino erschienen — für Fernsehaufnahmen und Interviews.
Ob
er den Weg wirklich gegangen ist oder nicht — im Grunde spielt es gar keine
Rolle, denn der Wert von Coelhos Buch liegt nicht darin, ein routengenauer
Wanderführer zu sein. Der Verdienst dieses angeblichen oder tatsächlichen
Pilgertagebuches ist es vielmehr,
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