Raum in der Herberge
Beziehungen,
die bleiben oder die erst nach dem Camino richtig blühen.
Uschi beispielsweise war auf
ihrem Pilgerweg immer wieder einem Franzosen begegnet, Norbert, den sie sehr
nett fand und umgekehrt er sie auch — aber irgendwie blieb das Ganze im
Unverbindlichen stecken. Über freundschaftliche Gespräche in geselliger Runde
kamen die beiden nie hinaus. Kaum zurück daheim, erhielt Uschi jedoch eine Mail
von Norbert, in der er sich anklagte, ein unglaublicher Narr gewesen zu sein,
ein Vollidiot, weil er ihr nicht schon auf dem Camino seine Liebe gestanden habe.
Heute leben die beiden zusammen
in Paris.
Eine der Freundschaften, die
über meine Pilgerreise hinaus andauerten, war die mit Andrea, einer jungen
Studentin aus Santiago. Obwohl sie altersmäßig meine Tochter hätte sein können,
verband uns — beide Einzelkinder — eine schwesterliche Beziehung. Andrea hatte
nach dem Camino ebenfalls beschlossen, im darauf folgenden Jahr dort als
Hospitalera zu arbeiten, hatte dazu an einem von Pater José Ignacios Cursillos teilgenommen und mir darüber vage berichtet. Nun
freute ich mich doppelt, sie wieder zu treffen, als Freundin und als Kollegin,
wollte wissen, wie es ihr als Hospitalera ergangen war.
Andrea hatte im Hochsommer, der
Zeit des größten Trubels, in verschiedenen großen Herbergen in Galicien
gearbeitet. Da all diese Häuser auf den letzten 100 Kilometern des Camino
lagen, unterschieden sich ihre Erfahrungen gewaltig von den meinen. Ständig
hatte sie sich genervten, anmaßenden, rücksichtslosen Menschenmassen ausgesetzt
gesehen, persönlicher Kontakt war kaum möglich gewesen.
„Du kannst dir das nicht
vorstellen, wie die sich aufgeführt haben“, Andrea schüttelte in Erinnerung
daran den Kopf, „wir haben drinnen noch geputzt, da haben sie draußen schon an
die Tür gehämmert und getreten. Wenn wir dann aufmachten, stürmten sie so
brutal an uns vorbei, dass ich ein paar Mal fast umgestoßen wurde.“
Der Run auf die Herbergsbetten
— sie hatte ihn hautnah in seiner übelsten Form mitbekommen. Meist konnten die
Albergues gar nicht alle aufnehmen, die hinein wollten, mitunter mussten
Ausweichquartiere zu Verfügung gestellt werden.
„ Polideportivo — Sportanlagen“, meinte Andrea lakonisch, „das ist das Wort, das du dir für die
Hochsaison merken musst. Turnhallen und so wurden für die Pilger aufgeschlossen
und da konnten sie ihre Matten auf dem Boden ausrollen. Das war natürlich total
ungemütlich, außerdem haben die Sanitäranlagen oft nicht gereicht, klar, dass
deshalb viele Pilger nicht gerade gut drauf waren.“
„Konntest du denn wenigstens
irgendetwas, was du in deinem Cursillo gelernt hattest,
anwenden?“, wollte ich wissen. „Pah“, Andrea schüttelte lachend den Kopf.
„Keine einzige Blase habe ich verarztet, obwohl ich das toll gelernt hatte.
Dazu wäre überhaupt keine Zeit gewesen.“
Kein Wunder, dass sie von ihrer
Hospitalera-Zeit nicht so begeistert war wie ich von meiner. Drei Kreuze sollte
ich schlagen — was hatte ich doch für ein Glück gehabt — mit meinen
Einsatzzeiten, den Orten und den Menschen, die mir dort begegneten.
Zum Abschluss einer Pilgerreise
gehören in Santiago neben dem Besuch der Pilgermesse, Beichte und Kommunion
einige Rituale, die von alters her vollzogen werden. So legt der Pilger beim
Betreten der Kathedrale seine rechte Hand auf eine Säule am Pórtico de la Gloria, dem Säulengang der Herrlichkeit. Man kann die entsprechende
Stelle nicht verfehlen, tiefe Fingerabdrücke im Marmor zeugen von den
Abermillionen Pilgern, die hier ihrer Reise ebenso beendet haben. Hinter dem
Hauptaltar führt dann eine Treppe zu einer kleinen Kapelle hinauf. Meist steht
dort eine längere Schlange an für den so genannten Abrazo , die traditionelle Umarmung der Statue des Apostels. Schließlich bleibt noch,
zur Grabkapelle mit dem prächtigen silbernen Reliquienschrein hinab zu steigen,
um dem Heiligen Jakobus Ehrerbietung zu erweisen.
Auch wenn ich diesmal nicht als
Pilgerin im eigentlichen Sinne kam, legte ich doch meine Finger an die Säule,
gab der Heiligenfigur einen Abrazo und stieg in die
Grabkapelle hinab. Es war schon Abend und die Kathedrale recht leer und in der
Kapelle betete einzig eine junge Frau. Ich kniete mich neben sie, barg das
Gesicht in den Händen, weniger um zu beten, als um mich in Gedankenleere zu
versenken. Mit einem Mal meinte ich, Flüstern zu hören.
Bin ich jetzt übergeschnappt
und hör schon Stimmen, dachte
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