Raven - Schattenchronik: Sechs Romane in einem Band (German Edition)
wenn ich richtig gezählt habe. Und das begreife ich einfach nicht.« Sie senkte den Kopf. »Natürlich haben Sie Recht, es war dumm von mir, bei so etwas mitzumachen. Aber als einige Freunde von mir vor ein paar Wochen die Idee aufbrachten, konnte ich mich das Faszination einfach nicht entziehen. Vielleicht liegt es gerade daran, dass ich früher schon mit Dämonen zu tun hatte. Mein Leben ist so langweilig und trostlos, dass so ein bisschen Nervenkitzel ungeheuer verlockend war.«
»Hätte man Sie erwischt, hätte das einen gewaltigen Skandal für Sie und Ihren Vater gegeben«, schimpfte Raven. »Von den dämonischen Gefahren, die Sie heraufbeschworen haben, gar nicht erst zu reden.«
»Ja, aber wieso?« Hillary zuckte hilflos die Achseln. »Ich verstehe es nicht. Wir haben uns in den letzten Tagen schon ein paar Mal hier getroffen, und nie ist etwas passiert. Es waren ja auch gar keine richtigen Beschwörungen, nur ein bisschen Show und Hokuspokus. Damit können wir unmöglich diese Untoten erweckt haben!«
Genau das war der Punkt, der auch Raven Kopfzerbrechen bereitete. Er hatte selbst festgestellt, dass die angebliche »Beschwörung« allenfalls den Wert eines Schmierentheaters besaß. Im Grunde war es völlig unmöglich, dass dadurch echte magische Kräfte freigesetzt worden waren. Aber wodurch waren die Untoten sonst zum Leben erwacht?
Hinzu kam die Leichtigkeit, mit der er sie besiegt hatte. Gut, sie hatten ihm ziemlich zu schaffen gemacht und ihn beinahe getötet, aber nur durch ihre pure Übermacht. Dass er sie mit so primitiven Waffen wie einer Eisenstange und einer improvisierten Fackel wieder zur Hölle hatte schicken können, war eigentlich ein Witz.
Er schüttelte den Kopf. Ein ernsthafter magischer Angriff war das nicht gewesen. Eher eine Art makabrer Gruß, ein erstes, noch nicht sonderlich ernst gemeintes Kräftemessen, um herauszufinden, ob er als Gegner noch ernst zu nehmen war. Ein Auftakt zu etwas viel Schlimmerem.
Und genau das bereitete ihm Sorgen. Große Sorgen.
Es war nicht das erste Mal, dass Raven die Villa Sir Anthony Giffords aufsuchte, aber sein letzter Besuch lag rund eineinhalb Jahrzehnte zurück, und er hatte fast vergessen, wie beeindruckend das Bauwerk war. Aber schließlich war Sir Anthony nicht nur reich, sondern zumindest früher auch einer der einflussreichsten und mächtigsten Männer Englands gewesen. Als Sonderbeauftrager Ihrer Majestät der Königin für besonders heikle diplomatische Missionen hatte er als Graue Eminenz hinter zahlreichen politischen Entscheidungen von größter Tragweite gestanden.
Raven hatte seinen Wagen vor dem Haupttor des Anwesens geparkt und schlenderte nun mit Hillary durch den parkähnlichen Garten den kiesbestreuten Weg zum Haus entlang. Während der Fahrt hatten sie nicht mehr weiter über die Teufelsmesse gesprochen. Stattdessen hatte Hillary von ihrem Leben in Australien berichtet und nicht eher Ruhe gegeben, bis auch Raven ihr geschildert hatte, wie es ihm die vergangenen Jahrzehnten ergangen war. So hatte er ihr von seinem Kampf gegen untreue Ehemänner und -frauen erzählt, gegen kleinere und größere Ganoven, vereinzelte dämonische Erscheinungen und seinem permanenten Krieg gegen Gerichtsvollzieher, das Finanzamt und andere Blutsauger.
»Da ist noch etwas«, sagte Hillary, als sie die mit mächtigen Säulen verzierte Veranda erreicht hatten. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Daddy nicht erzählen würden, unter welchen Umständen wir uns getroffen haben. Ich fürchte, im Augenblick mache ich ihm nicht gerade viel Freude. Meine Scheidung war schon ein harter Schlag für ihn, weil sich so etwas in unseren gesellschaftlichen Kreisen nun mal nicht ziemt. Wenn er jetzt noch von dieser Teufelsmesse erfährt, würde er das wohl nur schwer verkraften können. Schließlich ist er nicht mehr der Jüngste.«
Raven grinste. Wenn Sir Anthony nicht gerade zu einem empfindsamen Tattergreis geworden war, was er sich kaum vorstellen konnte, würde eine solche Lappalie ihn wohl kaum allzu sehr aus der Ruhe bringen können. Obwohl Hillary inzwischen eine erwachsene Frau war, hatte sie wohl viel eher Angst vor dem zu erwartenden Donnerwetter.
»Eigentlich hätten Sie es verdient, dass er Ihnen kräftig den Hintern versohlt«, sagte er. »Aber keine Angst, wenn es sich vermeiden lässt, werde ich nichts erzählen. Allerdings sollte er zumindest von den Untoten erfahren.«
Hillary sah nicht gerade glücklich aus, kam aber nicht mehr dazu,
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