Rebecca
Ich holte sie heraus, trug sie zum Tisch und öffnete den Deckel.
Ich prägte mir den Inhalt genau ein, bevor ich etwas anfasste. Auch wenn beim Zurückstellen der Schachtel alles wieder nach unten rutschte, konnte es sein, dass Dennis sich an die Reihenfolge der Unterlagen im Stapel erinnerte. Obendrauf lag ein Foto von einer blonden, jungen Frau mit einem Baby im Arm. Er erinnert sich daran, dass ihn seine Mutter auf dem Arm hielt, sie hatte das Gesicht eines Engels. Also war es keine Erinnerung, was auch allzu unwahrscheinlich schien, sondern er besaß ein Foto. Das Baby sah aus wie alle Babys, aber die Frau hatte das leicht schmollende, sinnliche Gesicht von Juliette Lewis in Kap der Angst.
Ich legte das Foto umgedreht auf den Tisch und nahm die darunter liegende Ansichtskarte heraus. Sie kam aus Frankreich. Ein Weg in den Bergen, auf dem sich Schafe mit bunten Bändern drängten. Der Almauftrieb. Abgestempelt war sie in Uzès; zwar konnte ich kein genaues Datum erkennen, aber da bereits eine Euro-Briefmarke darauf klebte, musste sie 2002 oder später abgeschickt worden sein. Ich fragte mich, warum Galman eine alte Ansichtskarte aufbewahrte, die an einen gewissen Douwe Barends adressiert war, Postfach 326 in Udenhout, aber als ich den Text las, dämmerte es mir.
Lieber Douwe, lange nichts von dir gehört, bitte melde dich mal! Habe eine ehemalige Klassenkameradin getroffen, die glaubte, deine Mutter hier in der Gegend gesehen zu haben. 3 Tage gesucht, nichts gefunden, nicht mal jemanden, der ihr ähnlich sieht. Komme nächste Woche wieder, lass von dir hören! Tante F.
Ob wir damit endlich weiterkamen? Ich machte mir rasch ein paar Notizen. Udenhout. Tante F. Douwe Barends?
Als Volltreffer erwies sich ein abgegriffenes kleines Notizbuch. Die meisten Seiten waren herausgerissen, aber auf den übrigen Blättern fand ich einige hastige Aufzeichnungen. Sie mussten in einem gewissen zeitlichen Abstand entstanden sein und waren jedes Mal mit einem anderen Kugelschreiber geschrieben.
Roelof Welmoed. Roter Kuli, dreimal unterstrichen. Irgendjemand hatte darübergewischt, wohl mit dem Finger, bis die Farbe verblasstem Blut glich.
Landschaftsgärtner. Middenstraat 18, Rumpt. Dort hatte die Familie gewohnt, bevor sie nach Acquoy zog. Sohn 14, Tochter 12.
Ein paar Seiten weiter, mit Bleistift: Arbeitet bei Gärtnerei in Deil. Frau gestorben.
Ein anderes Blatt, die ersten beiden Wörter dick unterstrichen: Wieder geheiratet!! UMGEZOGEN!
Suzan Lessing. Jünger.
Acquoy (bei Leerdam). Woher Geld? (Jan Adresse und Tel.) Tochter 16?
Und dann: Die Lösung!
Ich klappte das Notizbuch zu. Es enthielt zwar keine Neuigkeiten, wohl aber den Beweis, dass er die Familie schon seit Langem beobachtet und einen Plan geschmiedet hatte. Zwischen der ersten und der letzten Notiz waren mindestens vier Jahre vergangen. Jan. Jan Schreuder? War Schreuder die ganze Zeit über hier in der Nähe gewesen oder schickte Dennis ihn nur hin und wieder aus, um neue Informationen zu sammeln, weil er sich selbst noch nicht sehen lassen konnte oder wollte? Und warum ausgerechnet jetzt? Ein Stellplatz für sein Wohnmobil, genau an dieser bestimmten Stelle, nur für ein Weilchen. War die Zeit reif gewesen?
Aber: Warum.?
Ich fand in der Schachtel keine weiteren Namen, keine einzige Adresse. Allerdings einen kleinen Umschlag in der Größe einer Visitenkarte mit den Buchstaben Npb darauf, der sechs Tabletten enthielt.
Npb. Natriumpentobarbital?
Ich erinnerte mich an Natriumpentobarbital, das unter dem Markennamen Nembutal verkauft wurde, von einem Fall her, bei dem ich vor Jahren einmal einer jungen Heroinnutte aus der Patsche geholfen hatte, Tiffany. Inzwischen war längst bekannt, dass Barbiturate als Schlafmittel völlig ungeeignet waren, und man verwendete Substanzen mit weniger Nebenwirkungen, doch damals wurde Nembutal als Einschlafmittel verschrieben. Es wirkte nur kurzfristig, dafür aber schnell und heftig, eine Eigenschaft, die das Mittel bei den Junkies äußerst beliebt machte.
Ich überlegte, eine der Tabletten mitzunehmen, beschloss dann aber, dass es zu heikel war. Dieses Risiko wollte ich nicht eingehen. Falls Dennis die Tabletten nicht mehr brauchte, würde er den Umschlag vorerst nicht öffnen, falls er es aber zufällig doch tat, würde er sich zweifellos daran erinnern, dass sechs Tabletten darin gewesen waren und nicht fünf.
Ich legte alles wieder zurück in die Schachtel und trug sie zum Schrank. Ich fragte mich, wie er die
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