Rebellen: Roman (German Edition)
Demonstranten auf und räumten den Platz. Sie zogen in großen Gruppen durch die Innenstadt und blockierten dann an anderer Stelle. Die Polizei hatte Absperrgitter am Bertoldsbrunnen aufgestellt, aber jeder, der wollte, kam auf die Straße.
Schülerinnen schenkten den Polizisten Blumen und Bonbons. Die Männer wussten nicht genau, wie sie sich verhalten sollten. Mancher kannte die Töchter und Söhne von Nachbarn. Mancher wusste wohl, dass sie Kindern gegenüberstanden, deren Eltern Respektspersonen in der Stadt waren. Also nahmen sie die Blumen und lutschten die Bonbons, auch wenn es den Befehl gab, von Demonstranten nichts anzunehmen.
Nur die Polizisten mit den bellenden Schäferhunden blieben allein. Die Polizeihunde kläfften und knurrten, zogen an der Leine und wirkten gefährlicher als ihre waffentragenden Herrchen. Jedermann machte um sie einen Bogen. Bis Alexander, der sich auf dem Münsterplatz eine heiße Rote Wurst gekauft hatte, einem der Köter den Wurstzipfel hinwarf. Der Hund schnappte ihn noch in der Luft, kaute und vergaß für einen Moment zu bellen. Jemand warf ein zweites Stück Wurst, das ebenfalls sofort verschlungen wurde. Die Umstehenden lachten, jemand lief ins Kaufhaus und kaufte ein Dutzend Wienerle. Die Hunde hatten einen guten Tag, und wahrscheinlich fanden sie die Demonstranten ganz nett. Kein Grund zum Beißen.
Doch die Polizei ließ die Situation eskalieren. Sie ging nun dazu über, »Rädelsführer« zu verhaften. Paul lief die Bertoldstraße hoch, als er sah, wie ein halbes Dutzend Männer über den Studenten mit den roten Haaren herfiel. Einige gezielte Schläge, ein paar Stöße, und er ging zu Boden. Drei zivile Greifer schnappten ihn und schleppten ihn zu einem bereitstehenden Wagen, der mit hohem Tempo anfuhr. Ehe einer der Umstehenden reagieren konnte, war der Rothaarige weg.
Das flexible Konzept der Demonstranten funktionierte trotzdem. Es gab keine straffe Organisation, es gab keineAnführer. Jemand drückte Paul und Alexander ein Flugblatt in die Hand.
Gestern schaffte es die Polizei mit Mühe und Not, den Bertoldsbrunnen bis 18 Uhr zu räumen. Heute wird sie dasselbe schneller erreichen wollen. Um das zu verhindern, müssen wir die folgende Taktik entwickeln:
1.
Keine Provokation der Polizei! Damit setzen wir uns unnötigerweise ins Unrecht!
2.
Beweglich bleiben! = Nicht hinter den Absperrgittern stehen bleiben, sondern sich zerstreuen und sich neu sammeln an den folgenden Punkten:
3.
a. Friedrichsbau, b. Hertie-Baustelle, c. Kreuzung Rotteckring-Bertoldstraße
4.
Nicht auf die Bürgersteige zurückgehen, sondern langsam auf den Straßen rückwärts gehen.
Dann kamen zwei Hundertschaften aus Göppingen und zwei Wasserwerfer.
Die Landespolizeidirektion griff ein. Sie erteilte die Weisung:
1.
Der Verkehr ist unter allen Umständen nach allen Richtungen aufrechtzuerhalten.
2.
Jede Ansammlung von Demonstranten auf der Fahrbahn ist schon im Entstehen zu verhindern. Anführer sind sofort in polizeilichen Gewahrsam zu nehmen.
Zwei Wasserwerfer, solide Wertarbeit der repressionserfahrenen Firma Mercedes-Benz aus Stuttgart, mit je zwei Wasserkanonen rollten die Kaiser-Joseph-Straße hinauf. Sie schossen auch auf die Passanten. Darunter war auch Frau Hartenberger, die halbtags in der Buchhaltung von Heppeler arbeitete, und ein Lagerarbeiter, der gerade von einem Arztbesuch kam. Sie erzählten im Betrieb, was ihnen geschehen war. Langsam drehte sich die Stimmung. Frau Hartenberger erklärte, sie würde nun auch »auf die Straße gehen«.
Am Abend tagte der Studentenrat in der Alten Uni. Was konnte man tun, um die inhaftierten Schüler, Lehrlinge und Studenten freizubekommen?
Es wurde eine große Demonstration vorbereitet. Mitten in der Versammlung erschien plötzlich Polizeirat Meyer in voller Uniform. Er versprach, dass es unter seiner Führung keinen Knüppeleinsatz gäbe, wenn die Demonstrationen friedlich blieben. Zustimmung! Er wurde unter Beifall der versammelten Studenten verabschiedet.
Am nächsten Tag wurde Meyer abgelöst.
Von nun an war alles anders.
Jetzt wurde geknüppelt.
Die Polizisten aus Göppingen, selbst kaum älter als die Jugendlichen auf der Straße, prügelten auf alles ein, was sich bewegte, Demonstranten, Fußgänger, Einkaufende. Paul floh in einer Traube von Schülern vor einem Trupp Bereitschaftspolizisten die Bertoldstraße hinab. Einer seiner Mitschüler, völlig nass, mit zu Eis gefrorenem Pullover, konnte nicht mehr mithalten und
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