Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
abgefragt, die aber sehr harmlos waren und die selbst dann, wenn sie nicht harmlos gewesen wären, überhaupt nichts mit der behaupteten Tat zu tun hatten, um die es vor Gericht ging. Ich konnte mich teilweise nur mit Mühe erinnern, da die Fragen sehr ins Detail gingen.
Dr. Bock und Seidling begannen abwechselnd zu fragen und wechselten das Tempo immer wieder. Worüber man denn genau geredet habe beim ersten Treffen, ob dort schon »Zärtlichkeiten ausgetauscht worden seien« und Ähnliches mehr. Ich antwortete durchaus irritiert, aber freundlich so gut es ging auf die absurdesten Fragen in der Hoffnung, dass sie bald genug gehört hätten, da es nun wirklich nichts Spannendes und Ungewöhnliches zu berichten gab. Aber sie gaben nicht auf und schrieben alles eifrig mit, als hätten die banalen Fakten eines Kennenlernens auch nur den Hauch eines Beweiswerts im Rahmen eines Verfahrens wegen angeblicher Vergewaltigung einer ganz anderen Person. Es war grotesk.
Wann es denn zum »ersten sexuellen Kontakt gekommen sei«, wollte der Vorsitzende Seidling nun ganz genau wissen. Ich fragte ihn, was er denn damit meine, ob er Geschlechtsverkehr meine oder was genau. Sein Gesicht wurde rot, und er stammelte wieder etwas vom Austausch von Zärtlichkeiten und sexuellen Handlungen … Das fragte man mich, als wir chronologisch nicht weit über das erste Date hinaus waren. Ich antwortete, dass so etwas erst viel später stattgefunden habe. Nun begann die Kammer aufgeregt, den genauen Zeitpunkt unseres ersten Sex einzugrenzen, und fragte nach einem Datum. Ein genaues Datum konnte ich nicht mehr nennen, aber allein die Tatsache, dass es viele Monate nach unserem ersten Treffen gewesen war, hatte sie schon genug deprimiert.
In einem Nebensatz erwähnte ich bei der Beantwortung einer Frage, dass ich in Jörgs vermülltes Auto stieg. Diese Aussage nutzte der Vorsitzende sogleich, um mir eifrig ins Wort zu fallen und mit der Begründung, ich hätte den Zustand des Autos erwähnt, jetzt wolle er zur Persönlichkeit des Angeklagten kommen, das offenbar nicht ertragreiche Thema zu wechseln. Ich war empört über diese irrsinnige Verbindung, die Seidling zwischen dem vermüllten Autos eines Man nes, der tagtäglich im Auto mehrere hundert Kilometer fuhr, und des sen Persönlichkeit zog, und vergaß für einen Augenblick, mein Temperament zu zügeln. Ebenso wie er mir ins Wort gefallen war, fuhr ich ihm über den Mund und zweifelte an, dass das eine mit dem anderen auch nur irgendetwas zu tun hätte. Ich wurde mit einem missbilligenden Blick und Räusperer des Vorsitzenden wieder zurechtgestutzt, und alle drei Richter schienen vergnügt ihr soeben gefundenes »Indiz für Jörgs Schuld« auf die vor sich liegenden Zettel zu schreiben – nämlich das böse vermüllte Auto.
Mir wurde übel. Die wochenlang erarbeitete Wutrede fiel mir wieder ein. Es war wirklich schwer, diese Mauer an Ignoranz und offen sichtlicher Voreingenommenheit zu ertragen, ganz unmöglich jedoch, sie einzureißen. Es ist, wie einer der intelligenteren Kommentatoren des Verfahrens in einem Fernsehbericht vollkommen zu Recht feststellte (sein Name ist mir leider entfallen), ein zivilisatorischer Fortschritt, dass Moral und Vorurteile in einem Gerichtsprozess unserer Zeit nichts zu suchen haben, sondern dass es einzig und allein um die angeklagte Tat geht und um nichts anderes. Hier, wo schon ein vermülltes Auto zum Persönlichkeitsmerkmal wurde, war man weit davon entfernt.
Es wurde weitergefragt, haarklein jeder Entwicklungsschritt der Beziehung, die doch eine Liebe war, auseinandergenommen, abgefragt, aufgeschrieben, hinterfragt – es war das Entblößendste, das ich mir vorstellen kann. Und das Schlimmste: Es war so sinnlos und überflüssig.
Was um alles in der Welt trägt es zur Wahrheitsfindung in einem Prozess bei, der der Aufklärung eines angeblichen Verbrechens dient, bei dessen angeblichem Stattfinden ich nicht zugegen war, wenn ich erzählen soll, wann Jörg und ich uns wo getroffen haben oder wie viel Sex wir hatten oder was unsere Gesprächsthemen waren oder warum und wann ich nach Konstanz gezogen bin oder welche sexuellen Fantasien ich hege … Was geht das alles die Richter an?
Es war erniedrigend. Ich hatte nicht selten das Gefühl, dass die Richter einem gewissen Voyeurismus frönten und teilweise nur aus persönlichem Interesse fragten, auch wenn sie sich die Mühe machten, ausdrücklich zu betonen, dass dem nicht so sei und dass sie das alles
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