Recht und Gerechtigkeit: Ein Märchen aus der Provinz (German Edition)
Entschlossenheit der Staatsanwaltschaft nichts entgegenzusetzen wusste. Einer anderen Zeugin, die sich anwaltlich gegen ihre Ladung zur staatsanwaltschaftlichen Vernehmung gewehrt hat, hatte die Staatsanwaltschaft sogar mit Zwangsvorführung gedroht.
Das Publikum reagierte auf den Beschluss der Kammer, die Öffentlichkeit auszuschließen, mürrisch und genervt. Als der Richter die Zuschauer aufforderte, den Saal zu verlassen, gingen sie widerwillig und vor sich hin murmelnd aus dem Saal. Ich verstand diese Reaktion, sofern sie aus den richtigen Motiven heraus geschah: Denn das Prinzip der Öffentlichkeit und Transparenz ist ein Stützpfeiler des Rechtsstaats, und die Kammer hat dieses Prinzip in weiten Teilen der Verhandlung außer Kraft gesetzt. In vielen Fällen, denke ich, zu Unrecht, wie beispielsweise bei der Anhörung einiger Gutachter, deren Ergebnisse für die Anklage vernichtend waren. Durch diese Vorge hensweise ermöglichte sich das Gericht, sagen zu können: »Ihr da drau ßen wisst gar nicht, was hier erörtert wurde, also erlaubt euch auch kein Urteil über unsere Arbeit!«, was die 5. Große Strafkammer in ihrer mündlichen Urteilsbegründung am 31. Mai 2011 dann ja auch tat. Exakt zur Widerlegung einer solchen Rechtfertigung gibt es in einem Rechtsstaat das »Prinzip der Öffentlichkeit«.
Als wieder Ruhe eingekehrt war, begann das Gericht, seine Fragen »zur Sache« an mich zu stellen.
Eine Zeugenvernehmung läuft in der Regel so ab, dass man als Erstes vom Vorsitzenden befragt wird, dann fragen die Beisitzer (die Schöffen haben ebenfalls das Recht, Fragen zu stellen, machen das aber in der Praxis fast nie), danach folgen Staatsanwälte, Gutachter der Staatsanwaltschaft und des Gerichts, Gutachter der Verteidigung und schlussendlich die Verteidigung.
Es gibt die unterschiedlichsten Frage- und Verhörtechniken für Gerichte, Staatsanwälte und Polizisten. Im Rahmen meiner Vorbereitung auf die gerichtliche Vernehmung hatte ich viele davon studiert, um innerlich besser mit der bevorstehenden Situation umgehen zu können. Dieses spezielle Thema hatte mich aber schon vor dem Zeitpunkt interessiert, zu dem ich wusste, dass ich vor Gericht würde aussagen müssen. Ich wollte einfach wissen, welche Mittel der Justiz zur Verfügung stehen, um lügende Zeugen zu entlarven. Aufgrund des Umgangs der Kammer mit der schlecht ausgedachten Geschichte der Nebenklägerin (die später die naive Frage von Richter Dr. Bock auslöste: »Warum lügt sie so schlecht?«) war mir klar, dass das Gericht offenbar keine ausreichende spezifische Vorbildung hatte, was die juristische Bearbeitung solcher Delikte anging. Ich ging daher davon aus, dass die Richter letztlich auch rein gefühlsmäßig entscheiden würden. Deswegen achtete ich bei meiner Vernehmung auf Äußerlichkeiten, da ich ahnte, dass diese in ihrer Welt womöglich mehr bedeuteten als das, was ich zu sagen hatte – zumindest dann, wenn ich nichts Negatives über den Angeklagten zu berichten wusste. Ich überlegte lange, was ich anziehen sollte. Letztlich entschied ich mich für eine helle gestreifte Kragenbluse mit langen gestärkten Manschetten und eine schwarze Jeans, darüber ein langer Mantel. Ich versuchte, eine gerade Haltung anzunehmen, wach und aufmerksam zu sitzen, Füße und Beine still zu halten, die Arme vor mir locker übereinanderzulegen und den unfreiwilligen Gewichtsverlust von fünfzehn Kilo während der vergangenen Monate so gut es ging zu kaschieren. Diese Haltung hielt ich weitgehend die ganze Vernehmung über durch, denn sie gilt in der psychologischen Deutung als eine freundliche und offene, und selbst wenn die Richter über entsprechende Kenntnisse nicht verfügen sollten, so baute ich doch auf die Wirkung, die meine Körpersprache unbewusst auslösen musste. Der Druck, den ich empfand, alles tun zu müssen, um vor diesem Gericht die Wahrheit meiner Aussage zu beweisen, war immens. Ich fühlte mich von Anfang an in der Defensive.
Der Vorsitzende begann, chronologisch meine Beziehung zu Jörg abzufragen. Wie denn der erste Kontakt zustande gekommen sei und warum. Wer die Initiative ergriffen habe, wer zuerst angerufen und ein Treffen initiiert habe und so weiter. Bei jeder Frage hatte ich das Gefühl, dass man hoffe, die Antwort würde immer »Jörg wollte das« lauten. Als sei es etwas Verwerfliches, sich näher kennenlernen zu wollen, wenn man sich mochte. Es wurde der genaue Wortlaut unserer ersten Konversationen übers Internet
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