RECKLESS HEARTS
jetzt noch fürchten sollte. Wenn sie bedachte, was in ihrem Leben bisher schon alles passiert war, konnte sie sich fürchten oder es auch sein lassen, und Selin entschied sich - mehr intuitiv als bewusst - für das Letztere.
Der Schmerz in ihrem Bein hatte etwas nachgelassen, sie massierte es ein wenig, merkte, dass das brennende Ziehen sich verstärkte, wenn sie mit den Fingern das Bein entlang drückte, stellte aber auch fest, dass sie es, ganz vorsichtig, bewegen und ausstrecken konnte.
Alex bremste leicht ab, fuhr den Wagen rechts ran und stoppte den Motor. Bevor Atilla etwas sagen konnte, drehte er sich zu ihm und sah ihm scharf in die Augen. Seinen linken Arm stützte er abgeknickt auf dem Lenkrad ab.
»Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen! Das müssen wir doch, oder? Oder, was … was denkst du?«
Atilla presste die Lippen zusammen, sein Blick verriet, dass er sich unsicher war und keine Idee hatte, und dass die Situation mittlerweile ihm gehörig an den Nerven zerrte.
»Du hast recht«, bestätigte er schließlich.
Niklas und Jimmy nuschelten von hinten ihren Protest, der ungehört unterging.
»Nein!«, rief Selin laut und wiederholte es mit Nachdruck in die erschrockenen Gesichter der jungen Männer: »Nein! Kein Krankenhaus! Ich brauche kein Krankenhaus.«
»Sie sind verletzt«, entgegnete ihr Alex, der sich um eine ruhige Tonlage in seiner Stimme bemühte, um sein schlechtes Gewissen nicht preiszugeben und sie nicht noch mehr zu verstören.
»Nicht schlimm. Ich kann mein Bein bewegen. Bitte, ich will nicht ins Krankenhaus. Kein Krankenhaus!«
Alex und Atilla sahen sich ratlos an.
»Kein Krankenhaus!«, insistierte Selin erneut.
Sie meinte es ernst. Sie durfte auf keinen Fall mitten in der Nacht in irgendeiner Notaufnahme landen, wo man ihr Fragen stellen würde und die Dinge kompliziert werden würden. Das hätte ihr noch gefehlt. Sie war schließlich drauf und dran … Ja, was? Berlin zu verlassen? Genau! Sie hatte sich doch nur ein letztes Mal ihr früheres Zuhause ansehen wollen, bevor sie ... bevor sie zum Flughafen … na klar doch … zum Flughafen fahren und sich einen Hinflug nach Irgendwo besorgen würde … Die Grenzen innerhalb Europas waren doch inzwischen offen …
Na also, sie hatte immerhin schon so was Ähnliches wie einen Plan, das war doch was …
Sie befanden sich auf dem Columbiadamm. Rechts von ihnen lag der Volkspark Hasenheide, links der muslimische Friedhof. Vom Blitzeis war hier nicht mehr viel übrig.
»Würden Sie mich einfach irgendwo rauslassen, wo ich ein Taxi kriegen kann?« Selin sah abwechselnd zu Alex und Atilla, die offenbar mehr zu sagen hatten, als die beiden Typen hinter ihr.
Atilla, dem Selins Wunsch durchaus zusagte, lächelte verhalten und nickte ihr zu.
Alex jedoch verzog keine Miene! Er betrachtete sie äußerst skeptisch, wie sie bemerkte.
»Wo wollten Sie überhaupt hin?«, fragte er mit ernster Miene und einem beinah vorwurfsvollen Unterton.
Er fand ihr Verhalten - mal abgesehen davon, dass sie für ihre schwierige Lage nichts konnte - reichlich seltsam. Unweigerlich kam ihm der Verdacht, dass sie möglicherweise ebenso etwas zu verbergen hatte. Der Gedanke half jedoch nicht, sich ihr gegenüber weniger schäbig zu fühlen.
Die arme Frau. Sie hatte offensichtlich keine Ahnung, dass sie noch vor wenigen Minuten von genau diesem Minivan angefahren worden war, indem sie jetzt mit vier dubiosen Kerlen zusammensaß, vor denen sie aber komischerweise keine Angst zu haben schien, zumindest war sie ihr nicht anzusehen … Sie war erstaunlich … gefasst … und ihre dunklen Augen glänzten, wirkten wie aus einer fremden Welt.
Alex schluckte irritiert, als er dachte, was hat ein so elfenhaftes Geschöpf, allein, mitten in einer düsteren, kalten Winternacht in Neuköllns verfluchten Ecken zu suchen?
Die Sorge nämlich, er könnte sie ernsthafter verletzt haben, als sie zugab, falls sie es überhaupt richtig beurteilen konnte, steckte ihm wie ein Messer im Gewissen.
Sein Gewissen … tja … war schon immer sein Schwachpunkt gewesen.
Selin ließ Alex` Frage unbeantwortet. Sie war niemandem eine Erklärung schuldig. Schließlich stellte sie ja auch keine Fragen, obwohl ihr gerade jede Menge einfielen. Kritisch fixierte sie ihn. Er wirkte so ernst und angespannt, konnte ihrem Blick nicht lange standhalten, senkte den Kopf, hob ihn aber sofort wieder, um mit einem leicht angedeuteten Lächeln in den Augen einen ganz anderen Ton anzuschlagen:
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