Reflex
er und Marie hätten jeden Nachmittag auf dem Balkon mit Meeresblick gelegen und seien wunderbar braun geworden …
»Aber darüber wollte ich natürlich nicht mit Ihnen reden«, sagte sie. »Ich wollte Ihnen für Ihre Freundlichkeit danken und Sie wegen der Ausstellung fragen, die Sie vorgeschlagen haben … und wie ich mit den Fotos etwas Geld verdienen kann. Weil … und ich weiß, das ist ein unerfreuliches Thema … ich brauche nämlich … ähm …«
»Jeder braucht es«, sagte ich beruhigend. »Hat denn George nichts hinterlassen, Versicherungspolicen oder dergleichen?«
»Doch. Etwas. Und ich bekomme das Geld für das Haus, wenn auch unglücklicherweise nicht den vollen Wert. Aber es wird nicht reichen zum Leben, nicht bei der Inflation und so weiter.«
»Hatte George«, fragte ich behutsam, »denn keine … nun ja … Ersparnisse … auf irgendwelchen Sonderkonten?«
Ihr freundlicher Gesichtsausdruck wurde mißtrauisch. »Fragen Sie mich das gleiche wie die Polizei?«
»Marie … Denken Sie an die Einbrüche und an Ihr Gesicht und an die Brandstiftung.«
»So einer war er nicht«, brach es aus ihr hervor. »George hätte nie … Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Glauben Sie mir nicht?«
Ich seufzte, gab keine Antwort und fragte sie, ob sie wisse, bei welchem Freund George auf dem Rückweg von Doncaster auf einen Drink vorbeigeschaut habe.
»Natürlich weiß ich das. Es war kein Freund. Nicht einmal ein Bekannter. Ein Mann namens Lance Kinship. George hat mich an dem Morgen aus Doncaster angerufen. Das tat er oft, wenn er über Nacht wegblieb. Er meinte, er käme etwa eine halbe Stunde später als üblich, er wolle noch bei dem Mann vorbeischauen, es läge ohnehin auf seinem Heimweg. Dieser Lance Kinship wollte, daß George ein paar Aufnahmen von ihm bei der Arbeit machte. Er ist Regisseur oder so etwas. George sagte, er sei ein widerlicher, sich selbst in die Tasche lügender, kleiner Egoist, aber wenn er ihm schmeichle, würde er gut bezahlen. Das war praktisch das letzte, was er zu mir gesagt hat.«
Sie holte tief Luft und bemühte sich, die Tränen zu unterdrücken, die ihr plötzlich in den Augen standen. »Verzeihung …« Sie schniefte und zwang sich, ihre Gesichtszüge zu straffen, und suchte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.
»Es ist ganz natürlich zu weinen«, sagte ich. Schließlich waren erst drei Wochen vergangen seit Georges Tod.
»Ja, aber …« Sie bemühte sich zu lächeln, »nicht auf der Rennbahn.« Sie tupfte sich mit dem Zipfel ihres Taschentuchs die Augen und schniefte noch einmal. »Als allerletztes hat er gesagt«, brachte sie mit größter Anstrengung hervor, »ich soll für ihn Ajax Fensterreiniger kaufen. Ist das nicht albern? Abgesehen von einem ›Bis bald‹, hat George als letztes zu mir gesagt: ›Kauf bitte Ajax flüssig‹, und ich weiß nicht einmal …« Sie schluckte heftig. Die Tränen siegten. »Ich weiß nicht einmal, wofür er es brauchte.«
»Marie …« Ich streckte ihr die Hand entgegen, und sie griff so heftig danach wie im Krankenhaus.
»Es heißt, daß man die letzten Worte, die jemand, den man liebt, zu einem gesagt hat, nie vergißt …« Ihre Lippen zitterten hoffnungslos.
»Denken Sie jetzt nicht daran«, sagte ich.
»Nein.«
Sie wischte sich wieder die Augen und hielt meine Hand fest, aber nach und nach legte sich der Aufruhr, sie lockerte ihren Griff und lachte kurz verlegen auf, und ich fragte sie, ob eine Autopsie vorgenommen worden sei.
»Ach so … wegen Alkohol, meinen Sie? Ja, sie haben eine Blutprobe genommen. Sie sagten, er hätte unter der zulässigen Grenze gelegen … Er hatte bei diesem Kinship nur zwei kleine Whiskys getrunken. Die Polizei hat ihn befragt … Lance Kinship …, nachdem ich ihnen erzählt hatte, daß George dort vorbeischauen wollte. Er hat mir einen Brief geschrieben, mir sein Beileid ausgesprochen. Aber es war nicht seine Schuld. Ich hatte George tausendmal gesagt, daß er vorsichtig sein soll. Er wurde oft schläfrig, wenn er lange Strecken fuhr.«
Ich erzählte ihr, wie es dazu gekommen war, daß ich jetzt die Fotos von Lance Kinship gemacht hatte, die George hatte machen sollen, und das interessierte sie mehr, als ich erwartet hatte.
»George hat immer gesagt, Sie würden eines Tages aufwachen und ihm den Markt streitig machen.« Sie brachte ein wackeliges Lächeln zuwege, um es als Scherz hinzustellen, was es zweifellos auch war. »Wenn er es doch erfahren könnte. Wenn er doch … Mein Gott,
Weitere Kostenlose Bücher