Remember
brauchte einige Sekunden, um sich von dem Schreck zu erholen. »Ich… also, ich suche den, äh, Röntgenraum. Die… die Schwester sagte mir, ich könne auch alleine runtergehen. Aber ich hab mich wohl verlaufen. Tut mir leid.« Jetzt erkannte er den Mann. Es war der bärtige Typ, der gestern den Kontrollgang im Aufenthaltsraum gemacht hatte. Er hatte ein kleines Radio dabeigehabt. Michael war sofort sein T-Shirt aufgefallen. Auch heute prangte auf seiner Brust das Logo einer Band: Led Zeppelin.
Der Pfleger stemmte die Arme in die Hüften und wirkte ziemlich angefressen. »Sieht nicht aus wie ’n Röntgenraum oder was meinst du, Einstein?«
Michael kratzte sich am Kopf und grinste verlegen. »Na ja, nicht auf den ersten Blick.«
Der Pfleger gab ein kurzes Lachen von sich und schüttelte den Kopf. »Oh Mann. Los, komm mit, du Pfeife! Der Röntgenraum ist ganz in der Nähe, anderer Gang. Aber mach dir nichts draus, du bist nicht der Erste, der sich hier unten verläuft. Wir suchen noch immer nach der alten Mrs Pumpkins. – Schon seit einer Woche.« Der Pfleger sah Michael an und zwinkerte ihm zu.
Michael lachte und es war echt. Er war heilfroh, dass er so glimpflich aus der Sache rausgekommen war.
Nach dem Röntgen nahmen sie den Fahrstuhl hinauf in den ersten Stock. Im Erdgeschoss hielt die Kabine und Eric und ein weiterer Pfleger stiegen ein. Michaels Pfleger nickte ihm zu und überließ die beiden der Obhut seines Kollegen.
Michael lächelte Eric zu, doch der reagierte gar nicht. Er starrte nur vor sich hin und sah verbissen aus. Michael wollte schon etwas Aufmunterndes sagen, als sich die Fahrstuhltür schloss und der Pfleger anfing, Eric zu beschimpfen.
»Mir kannst du nichts vormachen, okay? Letzte Woche hab ich einem wie dir die Fresse poliert. Hat mich in ’ner Kneipe blöd angegafft, die schwule Sau.«
Irgendwas war zwischen den beiden vorgefallen. Lag es an der kleinen Nummer, die Eric vorhin abgezogen hatte? Eric hatte sich in seine Arme fallen lassen. Aber deswegen so ein Aufstand? Homophobes Arschloch!
»Wusste sofort, was das für einer ist. Und jetzt kommst du angetänzelt und führst dich auf wie Schneewittchen, die in ’nen vergifteten Apfel gebissen hat? Sehe ich etwa aus, als wäre ich schwul, häh?«
Michael spürte, wie die Wut in ihm hochkochte, und auch Eric sah inzwischen so aus, als würden ihm ein paar schlagfertige Kommentare auf der Zunge liegen. Aber er sagte kein Wort.
Währenddessen machte der Pfleger weiter seinem dreckigen Herzen Luft. Auch Erics Hautfarbe blieb nicht unerwähnt.
Michael ballte die Fäuste und musste sich zwingen, nicht dazwischenzugehen. Aber er durfte es einfach nicht riskieren, noch mal aufzufallen. Im Stillen bat er Eric um Verzeihung, dass er dem Typen nicht die Fresse polierte für das, was er da von sich gab.
Als sie den Fahrstuhl im ersten Stock verließen, verhielt sich der Pfleger wieder, als wäre nichts geschehen. Er führte Michael und Eric durch die Sicherheitstür und verschwand anschließend kommentarlos im Schwesternzimmer.
»Hör mal, Eric, wegen eben…«
Eric ließ Michael stehen und rannte direkt auf die Toiletten zu.
Verdammter Mist! Michael ging ihm hinterher, lehnte sich neben der Tür an die Wand und wartete. Es dauerte fast fünf Minuten, bis Eric wieder herauskam. Seine Augen waren deutlich gerötet.
»Alles in Ordnung?«, fragte Michael vorsichtig.
»Ja, schon gut. War nur ein ziemlich langer Tag. Lass uns nicht drüber reden, okay?« Eric lehnte sich neben ihn.
»Ja, okay.« Michael legte ihm ganz kurz die Hand auf die Schulter. »Übrigens. Danke für deine Hilfe vorhin. Ohne dich wäre ich da nicht rausgekommen.«
Ein Grinsen huschte über Erics Gesicht. Aber es verschwand gleich wieder. »Und? Hast du was herausgefunden?«
Michael dachte an den Keller, an die unterirdische Sauna, die Mundharmonika und die versiffte Toilette. »Ein wenig. Ich bin jetzt überzeugt, dass das hier eine echte Anstalt ist.«
»Und ist das eine gute Nachricht?«
»Ich hab keine Ahnung.«
10
Annabel saß mit George im Aufenthaltsraum und starrte ungeduldig auf die Tür. Sie wünschte sich, Michael und Eric würden endlich kommen, denn sie brannte darauf, den Jungs von ihrer Entdeckung zu erzählen. George hatte kurz nach ihr seinen Untersuchungsmarathon beendet. Aber er war von Anfang an nicht sehr gesprächig gewesen, deshalb hatte sie darauf verzichtet, ihn vorzeitig einzuweihen. Sie hatten nur ein paar Worte gewechselt.
Als die
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