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Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln

Titel: Remes, Ilkka - 6 - Die Geiseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Geiseln
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bekommen, das freilich nach dem Recht des Stärkeren normalerweise bei Radovan landete.
    Milas Augen wurden feucht. Sie nahm den Hörer des schnurlosen Telefons von der Couch und zog einen Zettel aus der Tasche. Sie tippte einige Ziffern, brach das Wählen aber vorzeitig ab.
    Draußen peitschte kalter Regen die kahlen Ahornbäume. Mila seufzte tief, nahm erneut den Hörer in die Hand und tippte die komplette Nummer ein. Sie musste sich zweimal vorstellen und ihr Anliegen in allen Einzelheiten vortragen, bevor man ihr schließlich sagte, Oberst Jankovic werde ans Telefon geholt. Nach langem Warten hörte Mila Schritte näher kommen.
    »Jankovic.«
    Die Stimme war vertraut, sie gehörte dem Mann auf dem Foto, der stolz das Mädchen im blauen Kleid auf dem Schoß hielt. Und doch war es die Stimme eines völlig fremden Menschen.
    »Vater«, sagte Mila unsicher.
    Es folgte ein Moment der Stille.
    »Mila. Das ist aber eine Überraschung.«
    In der Stimme lag eine Wärme, die Mila mehr schmerzte, als sie sich eingestehen mochte.
    »Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leid tut... das mit Radovan ...« Sie konnte nicht weiterreden. Die Stimme ihres Vaters klang schwach, als er sagte: »Ja, mir auch.«
    »Radovan sagte, dass er versuchen wolle, dich zu befreien. Er hat sein Wort gehalten.«
    »Er hielt immer Wort.«
    »Wenn es bloß einen anderen Weg gegeben hätte ...«
    Da ihr Vater nichts sagte, fuhr Mila fort: »Ich habe in der Zeitung gelesen, dass eine Frau als Geisel genommen wurde. Ich finde es total barbarisch, das Leben von Unschuldigen zu gefährden.«
    »Radovan ...«, erwiderte der Vater scharf und mit Nachdruck, milderte aber sogleich wieder seinen Tonfall: »... wusste, dass es der einzige Weg war. Er hätte der Frau nichts getan. Aber den Finnen war das Leben der Frau egal, sie haben angefangen zu schießen.«
    Mila seufzte. Es war zwecklos, mit dem Vater zu diskutieren. Das Resultat war immer das Gleiche. In der Welt ihres Vaters gab es stets mehr Gründe, Gewalt anzuwenden, als auf sie zu verzichten.
    »Du gehst doch zur Beerdigung?«, fragte der Vater vorsichtig. »Ich weiß es noch nicht. Von Vasa habe ich gehört, dass ihr sie auf eure Art organisiert. Muss denn auch bei einem Begräbnis noch geschossen werden? Kann man die Waffen nicht...«
    »Salutschüsse sind nicht irgendeine Schießerei.«
    Im Nu war die Stimme des Vaters eiskalt geworden.
    »Ich habe versucht, Vasa zu erreichen, aber er meldet sich nicht«, wechselte Mila das Thema.
    »Ich sage ihm, er soll dich anrufen. Er war heute hier.« »Ich habe keine Ahnung, was er eigentlich so treibt. Er hat seltsame Freunde, ich ...«
    »Mila«, unterbrach der Vater sie. »Jetzt ist nicht der richtige Augenblick, um über Familienangelegenheiten zu streiten, über solche Dinge redet man, wenn man sich gegenübersitzt. Wie geht es dir? Malst du noch?«
    Mila durchschaute den plumpen Versuch ihres Vaters, das Gespräch in ungefährliche Gewässer zu lenken. Erst jetzt begriff sie, dass die Telefonate im Gefängnis mit Sicherheit aufgezeichnet wurden. »Natürlich male ich. Immer mehr.« » Was für Bilder malst du ?« »Ich male die Welt. Die Menschen. Ich male, wie die Brutalität an die Oberfläche dringt. Wie sich ein liebender Familienvater als gnadenloser Schlächter entpuppt...« Mila merkte, wie ihre Aufregung wuchs. Nach einem Moment der Stille hörte sie die ruhige Stimme ihres Vaters: »Der Krieg ist grausam. Immer. Für alle Beteiligten. Aber nur der Sieger erhält die Gelegenheit, Geschichte zu schreiben. Mila . . . Ich habe unser Land und unsere Heimat verteidigt, damit auch du irgendwann dorthin zurückkehren kannst.«
    »Komm mir bloß nicht mit der Behauptung, du hättest mir zuliebe paramilitärische Garden und andere Bewaffnete in den albanischen Dörfern wüten und Frauen und Kinder umbringen lassen«, schrie Mila. »Das war schlicht und einfach falsch, es war ein Kriegsverbrechen, und dafür bist du verurteilt worden. Serbien ist nicht mehr meine Heimat, für mich ist das Land ebenso gestorben wie Radovan!«
    Wieder kehrte schwere Stille ein. Dann sagte der Vater: »Die Wärter geben mir ein Zeichen. Ich muss aufhören.«
    So, so, dachte Mila.
    »Leb wohl«, sagte der Vater.
    »Leb wohl, Vater«, gab Mila zurück und legte wütend auf. Im selben Moment brach sie in untröstliches Schluchzen aus. So heftig hatte sie seit Jahren nicht geweint. Sie weinte um ihren Vater, um Radovan, um ihre Mutter - aber vor allem weinte sie um das

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