RENAS VERSPRECHEN (German Edition)
Reihe der Neuankömmlinge beobachte, wei ss ich nicht, ob ich beten soll, sie hier nicht zu sehen, oder ob ich beten soll, da ss wir einander begeg nen, wenn sie eben falls hierherkommt. Ich frage mich, ob sie mich erkennen wird. Ich frage mich, ob ich sie erkennen werde. Jedes neue Gesicht wird sorgfältig gemustert, ehe ich davon ablasse, weil es nicht das meiner Schwester ist. Verloren in einem immer grö ss er werdenden See der Ve rzweiflung hat mein Herz die ei ne letzte Hoffnung, da ss Danka sich in der Slowakei verste cken k ann. Doch mein Gefühl sagt mir, da ss sie schon allzu bald hier sein wird.
Ich sehe meine schönen wei ss en Stiefel mit der roten Ver zie rung an einer SS-Frau. Ich möchte etwas sagen, sie ihr weg nehmen und selbst anziehen. Doch ich versuche, den Impuls, mir wiederzuholen, was mir gehört, zu bekämpfen un d kehre in das Gebäude zurück. „Aufstellen! Aufstellen!“ Wir bewegen uns in ordentlichen Fünferreihen. Die Son ne geht im We sten unter, als man eintausend von uns gezählt hat.
Eine Betonmauer teilt das Lager. Die Unterkünfte der Männer sind auf der anderen Seite dieser Mauer, aber vom zweiten Stock der Gebäude können wir einander durch Stacheldraht sehen. In der heraufziehenden Dunkelheit stehe ich vor dem oberen Fenster und sehe dieselben Männer, die ich tags zuvor auch gesehen habe. Jedenfalls sehen sie genauso aus. Jedes der Häuser in Auschwitz hat an der Vorderseite Fenster, und im zweiten Stock können wir sie öffnen und mit den Männern auf der anderen Mauerseite sprechen. Sie sind halb verhun gert, darauf erpicht, Nachrichten von Drau ss en zu hören und unsere Bekanntschaft zu machen.
Ich gehe ans Fenster und spucke mir in die Hand. Ich sehe mein Spiegelbild nur dunkel und trübe, doch ich rubble mir den Schmutz aus dem Gesicht und reibe die Tränenspuren in meine Haut, damit keiner erfährt, da ss sie mich zum Weinen gebracht haben. Ich fahre mir über den Schädel, als hätte ich Haare zu kämmen. Es ist eine nutzlose, aber tröstliche Geste, die mich daran erinnert, wie Mama mir mein Haar nach hin ten streicht. Rasch schlie ss e ich diese Gedanken weg; nur eins gilt es zu beachten - sich nicht in Erinnerungen zu verlieren. Mein Spiegelbild im Fenster kämpft gegen die Tränen an. Ich möchte schreien und toben, doch ich kann nur das Bild anstarren, das ich sehe. Was haben sie aus uns gemacht? Die stillen Schreie in meinem Kopf rei ss en mir die Seele entzwei. Wer ist diese Person, die mich da anstarrt? Die Männer im Lager se hen nicht mehr wie Verrückte aus. Sie sehen aus wie ich
„ Ist da drüben irgendwer aus Polen?“, erkundigt sich ein Mann von der anderen Mauerseite.
„Ich“ , sage ich.
„Kann ich dir helfen?“, will er wissen.
„ Ich könnte einen Strick brauchen, um meine Hose fest zubinden, und einen Nagel.“ Das nennt man Organisie ren. Ei gentlich ist es Schnorren, aber in Anbetracht unserer Um stän de und der Gefahr, der wir u ns aussetzen, wenn wir etwas Zu sätzliches zu ergattern versuchen, rechtfertigt sich der Begriff Organisieren.
„ Lauf nach unte n. Ich werde etwas rüberwerfen.“ Das ist mein erstes Hilfspäckchen, und mit dankbarer Bewunderung nehme ich einen Strick und einen Nagel in Empfang, beides an einem Stein festgebunden.
Den Rest des Abends bringe ich damit zu, den Strick durch zuscheuern und vier Stücke daraus zu machen. Ich komme schnell dahinter, da ss Einfallsreichtum hier genauso wertvoll ist wie Nahrung, und alles, was ich in die Hände bekomme, wird auf seine Verwendungsmöglichkeit geprüft. Mit dem Stein gelingt es mir, den Nagel durch den Blechrand meines Bechers zu treiben, dann ziehe ich ein Stück Strick - mein neuer Gürtel - durch das Loch. Damit mir mein Hemd nicht aufgeht, stecke ich es mir in die Hose und binde den Strick fest um meine Taille. Es ist so, wie es ist. M ein Leben hängt von diesem kost baren Becher ab, aus dem ich trinken kann und mit dem ich mich waschen kann. Ich werde mit ihm arbeiten. Ich schlafe mit ihm. Ich habe ihn immer bei mir. Er ist rot.
Es gibt keine Duschen, aber in Block Zehn gibt es drei Toiletten und eine Gelegenheit zum Händewaschen. Als Toilet ten papier haben wir Zeitungspapier, aber das ist immer schnell weg. Es gibt dort immer eine Warteschlange, und deshalb haben wir nicht oft Gelegenheit, die Toilette zu benutzen oder uns die Hände zu waschen, aber es ist wenigstens möglich. Es gibt Schlafkojen mit Strohmatratzen und dünnen Decken darauf. In
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