Rendezvous um Mitternacht
zu ertappe ich sie, wie sie Selbstgespräche führt, und dann behauptet sie, Sam sei da!«
Ich nickte. »Nach seinen Worten hat er früher ein Stück die Straße runter gewohnt. Er kennt Sie, meint er, und Sie seien mit einem John zusammen gewesen.«
Annalise staunte hörbar. »Das war mein Freund aus der Highschool! Und ja, einen Block weiter gab es einen kleinen Jungen, der von einem Auto überfahren wurde. Ich glaube, er hieß Sam!«
Ich nickte. »Er sagt, seine Mutter lebe noch in der Nähe, und sie könne nicht loslassen. Sie gibt sich wohl die Schuld, aber er meint, sie habe nichts dafür gekonnt.«
Annalise nickte. »Mrs. Trenton. Sie lebt ganz allein und geht fast nie vor die Tür. Damals war sie wohl kurz ans Telefon gegangen, während Sam im Vorgarten spielte, und im nächsten Augenblick kam er unters Auto.«
»Sam sagt, Sie sollten ihr unbedingt ausrichten, dass er heute hier war und gesagt hat, sie soll sich keine Vorwürfe mehr machen. Er sagt, er sei jetzt bei Bill und Liz, und sie kümmerten sich gut um ihn. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen.«
»Das sage ich ihr ganz bestimmt.«
»Hat der kleine Junge es ins Jenseits geschafft?«, fragte Steven.
Ich lächelte, weil er die Frage schon so selbstverständlich stellte. »Ja, er ist gut angekommen, aber er kehrt immer wieder hierher zurück, weil er sich um seine Mutter sorgt. Außerdem spielt er gern mit Ihrer Tochter, Annalise.«
»Da kriegt man ja eine Gänsehaut«, meinte sie mit großen Augen. »Soll ich noch etwas ausrichten, M. J.?«
Sams Energie schwand bereits aus meinem Bewusstsein. »Nein. Das war alles, was er zu sagen hatte. Er wird später zurückkommen und mit Shanah spielen.«
In diesem Moment kam auf Zehenspitzen ein kleines Mädchen mit riesigen runden Augen und dicken Brillengläsern den Flur entlang. »Eins zwei drei, ich komme«, rief sie. Ich beobachtete, wie sie in ein Zimmer spähte, das von dem Flur abging, und dachte lächelnd, was für einen ungewöhnlichen Spielkameraden sie hatte.
Als sie uns sah, stockte sie für einen Moment, dann eilte sie zu ihrer Mutter und versteckte sich hinter ihr.
»Shanah«, sagte Annalise, »Steven kennst du doch, oder?«
Shanah sah zu Steven hoch, dann verbarg sie ihr Gesicht wieder hinter dem Rücken ihrer Mutter.
»Und das ist seine Freundin M.J. Sie hat gerade mit Sam gesprochen.«
Shanah sah mich neugierig an. »Wir spielen Verstecken.«
Ich ging in die Hocke, um mit ihr auf Augenhöhe zu reden.
»Ich weiß. Er hat mir gesagt, er muss jetzt kurz nach Hause, aber nachher kommt er wieder, dann könnt ihr weiterspielen.«
Shanah nickte, dann sprang sie davon, zurück in den Flur und in ihr Zimmer. Wir alle sahen ihr nach. Als sie verschwunden war, fragte Steven: »Wie geht es mit ihrer Atmung?«
»Seit gestern wieder besser. Und nochmals vielen Dank, dass du vorbeigekommen bist. Ich weiß, ich hätte sie zum Notdienst bringen sollen, aber bis dorthin sind es vierzig Kilometer, und da ich wusste, dass du in der Nähe bist …«
»Mach dir keine Gedanken, Annalise«, sagte Steven, »aber nun sag mal: Was hat mein Vater heute Morgen hier gewollt?«
Annalise sah einen Augenblick lang schockiert aus, fing sich aber schnell wieder. »Also wirklich, wo sind meine Manieren?«, schimpfte sie übertrieben. »Kommt in die Küche. Ich habe gerade Kaffee aufgebrüht.«
Damit huschte sie an uns vorbei, und wir folgten ihr in eine winzige Küche, in der an einer Wand ein kleiner Tisch mit drei Stühlen stand. Annalise nahm eifrig klappernd drei Tassen aus dem Schrank und sagte über die Schulter: »Bitte setzt euch.«
Steven und ich nahmen Platz, und sie schenkte uns von dem dampfenden Kaffee ein. Ich nahm einen Schluck. Er war köstlich. »Ihr Kaffee ist echt lecker«, lobte ich.
Annalise setzte sich zu uns. Sie wirkte wieder ganz ruhig. »Vielen Dank. Ich kaufe nicht den billigsten. Ein bisschen Luxus braucht der Mensch nun mal, oder?«
Steven unterbrach sie. »Wirst du jetzt meine Frage beantworten?«
Annalise zupfte am Saum ihrer Bluse. »Er ist gestern Abend aufgetaucht, Steven. Was sollte ich machen?«
»Ihm sagen, er soll zur Hölle fahren.«
Annalise sah ihn finster an. »Er meinte, er wolle Shanah sehen. Er hatte gehört, dass sie in letzter Zeit gesundheitliche Probleme hatte. Wahrscheinlich hat Andy von der Apotheke den Mund nicht halten können. Steven wollte sichergehen, dass alles in Ordnung ist.«
»Warum sollte ihn das kümmern, Annalise?«, versetzte Steven
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