Renner & Kersting 03 - Mordsgier
Freundin besucht die erste Klasse und wurde von einem Schüler meiner Klasse gezwungen, die Hose runterzulassen. Das ist natürlich nicht in Ordnung, und ich habe entsprechend reagiert. Aber ihm gehen meine Sanktionen nicht weit genug. Er verlangt, dass ich dafür sorge, dass der Junge von der Schule fliegt, was absoluter Quatsch ist. Schließlich ist nichts Gravierendes passiert. Zum einen ging die Mutter der Kleinen rechtzeitig dazwischen, zum anderen war der Bengel bloß neugierig ohne sexuelle Hintergedanken. Im Grunde bin ich nicht einmal verpflichtet, mich zu kümmern, weil das Ganze auf dem Heimweg und nicht während der Schulzeit passiert ist. Erst hat dieser Mistkerl sich beim Hagener Schulamt beschwert und jetzt anscheinend beim Regierungspräsidenten in Arnsberg. Nun soll ich noch einmal Stellung nehmen. Gut, dass ich den Text noch im Computer habe. Die kriegen den gleichen Brief wie das Schulamt. Was für eine Vergeudung von Zeit und Energie. Aber offensichtlich ist kein Vorgesetzter in der Lage, solchen Querulanten die passende Antwort zu geben. Und dabei ist der Kerl nicht einmal erziehungsberechtigt!« Sie merkte gar nicht, dass sie immer lauter wurde. Der eine oder andere Kollege hatte seinen Kopf neugierig durch die Tür gesteckt, war aber schnell wieder verschwunden, als er Helga schimpfen hörte. Sie war auf ihre Vorgesetzten mindestens ebenso wütend wie auf den Mann, der weder der leibliche noch der Adoptivvater war. »Manchmal hasse ich dieses ganze System. Ich muss Kindern, denen daheim dauernd erzählt wird, dass Lehrer blöde Arschlöcher sind, etwas beibringen – gegen ihren Willen wohlgemerkt! – und mich dann noch von allen möglichen Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben, beschimpfen lassen. Mir reicht’s! Eine Antwort kriegen die frühestens nach der ersten Mahnung. Bin gespannt, wie lange es dauert, bis die da oben merken, dass sie von mir noch nichts gehört haben.« Vehement zerknüllte sie den Brief, besaß dann aber doch noch soviel Vernunft, ihn in die Jackentasche zu stecken, bevor sie mit langen Schritten den Raum verließ.
In der kalten Luft beruhigte sie sich nur wenig. Immer wieder musste sie sich sagen, dass die Kinder schließlich nichts dazu konnten, wenn ihre Eltern sie gegen die Schule beeinflussten. Allmählich wurden ihre Schritte langsamer, ihr Gesicht nahm wieder normale Farbe an, und auch das wilde Pochen in der Herzgegend hörte auf. Sie sah sich um. Die Kinder tobten und brüllten wie jeden Morgen. Nadja und Nele stürzten auf sie zu und erzählten strahlend, dass sie die Hausaufgaben vergessen hatten, zwei Jungen, die sich rücksichtslos prügelten und im Matsch wälzten, riss die Lehrerin auseinander. Den einen schickte sie zur Eingangstür, den anderen nahm sie an die Hand. Als sie Mehtap erblickte, ließ sie ihn los, nachdem er versprochen hatte, nicht mehr zu schlagen. Von Mehtap bekam sie erst einmal eine feste Umarmung. Auch dem Mädchen mangelte es an Zuwendung. Kein Wunder. Daheim wurden die Jungen bevorzugt, während Mehtap und ihre Schwestern die Hausarbeit erledigen mussten. Das Mädchen hatte fehlende Hausaufgaben schon häufig mit häuslichen Pflichten wie Kinderhüten, einkaufen oder putzen entschuldigt. Da Helga wusste, wie es in vielen Familien zuging, glaubte sie ihr. Als sie auf Mehtaps und Veronikas Wanderung durch das Schulgebäude zu sprechen kam, wurde das Mädchen vorsichtig. Nein, sie könne sich an nichts erinnern, meinte sie. Leise, als spräche sie mit sich selbst, begann Helga von bösen Menschen zu erzählen. Menschen, die eingesperrt gehörten, damit sie anderen keine Angst mehr einjagen konnten. Sie spürte mehr, als dass sie sah, wie sie Mehtaps Aufmerksamkeit erregte. Besonders als Helga erwähnte, dass Kinder gar nicht mit der Polizei reden mussten, sondern es genügte, ihre Beobachtungen der Lehrerin zu erzählen, und dass niemand davon erfahren müsse und auch keinerlei Strafen zu befürchten seien, wurde Mehtap hellhörig.
Es dauerte noch einen Moment, dann redete das Mädchen, kaum verständlich zunächst, später lauter und sicherer. »Also Veronika meinte, wir sollten uns mal umsehen, aber das wissen Sie ja, und dann hörten wir zwei Männer ganz laut schimpfen. Sie waren in einer Klasse im oberen Flur, da wo die bunten Fenster sind. Die Tür stand etwas offen. Da haben wir hineingeguckt, ganz vorsichtig. Zwei Lehrer standen vorn, vor der Tafel. Veronika hat gesagt, den einen würde sie kennen, und da sind wir
Weitere Kostenlose Bücher