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Reptilia

Reptilia

Titel: Reptilia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Thiemeyer
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kann ich Sie beruhigen«, sagte Mrs. Palmbridge, und ich glaubte einen kalten Schimmer in ihren Augen zu bemerken. »Sie können von mir verlangen, was Sie wollen. Das gilt im Übrigen für alle hier Anwesenden.«
    »Nein, nein«, wiegelte ich ab. »Das hat mit Geld gar nichts zu tun. Es geht nur darum, dass ich mich einer solchen Herausforderung nicht gewachsen fühle. Ich bin nun mal ein Bücherwurm, der sich am wohlsten fühlt, wenn er in seinem Laboratorium sitzen und forschen kann.«
    »Da hatte Ihr Vater aber ganz andere Ansichten.«
    »Mein … Vater? Was hat Ronald denn damit zu tun?«
    »Er hielt große Stücke auf Sie. In seinen Briefen schrieb er, wie prächtig Sie sich entwickelten und wie sehr er sich auf den Tag freue, an dem Sie seinen Spuren folgen und sein Lebenswerk fortführen würden. Seite um Seite voll des Lobes. Ich habe sie oben, ich kann sie Ihnen auf Ihr Zimmer bringen lassen, wenn Sie sie lesen möchten …«
    Ich hatte einen Kloß im Hals. In dieser Umgebung reichte die bloße Erwähnung meines alten Herrn aus, um meine Erinnerung an ihn mit einer Intensität zu wecken, die beinahe mit Händen zu greifen war. Mein Vater. Er war der ruhige Pol in meinem Leben gewesen, der Fels, an den ich mich klammern konnte, seit Mutter gestorben war. Ich war vier Jahre alt, als sie bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben kam. Danach war mein Vater ein anderer. Er musste der Enge des Hauses entfliehen, sagte, dass er es nicht mehr ertrüge, weil alles ihn an sie erinnerte. Er wollte hinaus und auf Reisen gehen. Er nahm mich von der Schule und organisierte Privatlehrer, die uns auf seinen ausgedehnten Forschungsreisen begleiteten. Damals spürte ich, wie beängstigend groß die Welt war. Ich erinnere mich noch gut, als ich zum ersten Mal den schneebedeckten Gipfel des Kilimandscharo sah, wie er sich weiß leuchtend in den Himmel Tansanias erhob. Oder die grünen, lichtdurchfluteten Usambaraberge mit ihren schattigen Tälern. So vergingen beinahe zwei Jahre. Die Tragödie hatte uns so eng zusammengeschweißt, dass kein Blatt Papier zwischen uns passte. Doch im Gegensatz zu ihm hatte ich mich nie so richtig mit der Weite und dem Licht Afrikas anfreunden können. Vielleicht war das der Grund , warum ich mich am liebsten in geschlossenen Räumen aufhielt.
    »David?«
    »Lassen Sie bitte meinen Vater aus dem Spiel. Das ist nicht fair«, sagte ich.
    Lady Palmbridge sah mich aus ihren unergründlichen Augen an. »Was ist schon fair? Ist es fair, dass Hunderttausende von Menschen jedes Jahr an den Folgen schrecklicher Virenerkrankungen sterben müssen? Ist es fair, dass meine Tochter, die sich immer für das Wohl anderer eingesetzt hat, jetzt wahrscheinlich tot auf dem Grund des Lac Télé liegt? Ich bitte Sie inständig, mir zu helfen. Und wenn Sie es schon nicht für mich tun, so tun Sie es wenigstens für das Andenken Ihres Vaters. Ronald hätte es sich gewünscht.«
    Ich spürte, dass meine Vorsätze ins Wanken gerieten, und verachtete mich im selben Moment dafür. Doch es war schwer, gegen ein solches Übermaß an Gefühlen anzukämpfen. Die Gesichter von Lord und Lady Palmbridge, Emily und meinem Vater wirbelten in meinen Gedanken herum und vermischten sich mit Bildern aus meiner Kindheit zu einem unwiderstehlichen Sog aus Erinnerungen, Träumen und Hoffnungen. Ich spürte, dass es nur einen Weg gab, diese Geister zu bannen und die Vergangenheit hinter mir zu lassen.
    »Also gut«, hörte ich mich sagen. Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich werde Ihnen Emily zurückbringen, wenn sie noch lebt. Oder Ihnen zumindest sagen, was aus ihr geworden ist.«
    In der Stille, die nun folgte, hörte ich das Schlagen der schweren Standuhr im Nebenzimmer. Zwölf Schläge. Mitternacht. Ich fühlte mich so müde und niedergeschlagen, dass ich auf der Stelle hätte einschlafen können. Die lange Reise, die Enthüllungen der letzten Stunden und der unfreiwillige Ausflug in die Vergangenheit forderten ihren Tribut.
    »Lassen Sie den Kopf nicht hängen, David«, hörte ich unsere Gastgeberin sagen. »Ich hätte Sie nicht um diesen Gefallen gebeten, wenn ich annehmen würde, dass Sie der Aufgabe nicht gewachsen wären. Abgesehen davon sind Sie ja nicht allein. Ich stelle Ihnen die besten Leute zur Seite, die es auf diesem Gebiet gibt. Außer Mr. Maloney und Sixpence wird sie eine Wissenschaftlerin begleiten. Elieshi n’Garong ist Kongolesin, was den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung vereinfachen wird.

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