Resturlaub
und lauschen dem schwermütigen Piazolla. Ich hätte so etwas Altmodisches früher freiwillig nie gehört und dennoch gefällt es mir in diesem Augenblick auf seine Art. Ein neues Stück eröffnet mit einer ebenso erotischen wie ausdrucksstarken Frauenstimme. Sie erzählt eine Geschichte, von der ich leider nur erahnen kann, wovon sie handelt. Pedro, mit seinen feuchten Augen und seinem Kugelbauch, versteht jedes einzelne Wort und kennt das Lied womöglich auswendig. Ich beneide ihn dafür. Ein Piano gesellt sich zur Geschichte der Frau und schließlich das gesamte Orchester. Obwohl ich nichts verstehe, berührt mich das Lied.
Ya se que estoy piantao, piantao, piantao beginnt der Refrain.
Ich frage Pedro, was das bedeutet.
»It means: you know that I'm crazy!«
Du weißt, dass ich verrückt bin. Dann weiß ich ja, warum mich das Lied berührt. Mein Blick fällt auf meine Armbanduhr: Es ist halb zehn. Ich erschrecke, weil ich vor lauter Piazolla die Kneipentour vergessen habe. Halb zehn, das heißt, dass ich in spätestens einer halben Stunde aus dem Haus muss. Gerade als ich aufstehen will, springt Taxi auf meinen Schoß.
»Taxi also does not feel good today!«, seufzt Pedro, öffnet das zweite Bier und beginnt, mir von seiner Jugend in Caballito zu erzählen und wie schlecht seine Mutter behandelt wurde von seiner Großmutter, der alten Hexe. Als Pedro gegen zehn Uhr zwei komplette Fotoalben aus seinem Zimmer anschleppt, mache ich mir ernsthafte Sorgen um meine Kneipentour. Es sind Bilder einer Patagonienreise mit seiner Mutter, der letzten Reise mit ihr. Ich sehe Fotos der beiden vor dem Hotel, neben dem Hotel und im Hotel. Ich sehe die beiden Arm in Arm vor riesigen Felsen, die Torres del Paine heißen, sie stehen lachend vor dem Lago del Toro und als Pedros Mutter ängstlich eine Art Minikamel streichelt, das man Guanaco nennt, ist es kurz nach elf. Pedros Laune bessert sich mit jedem Foto und jedem seltenen Tier.
Während mir ein trauernder Tierfriseur ein Foto nach dem anderen von irgendwelchen Steinlandschaften zeigt, zieht die halbe Sprachschule mit Luna durch die Kneipen und Clubs der Hauptstadt.
»Peter, look! This is a very rare stone!«
»Is it?«
Um kurz nach elf schleiche ich mich kurz in mein Zimmer, setze mich auf den Rand meines Bettes und atme dreimal tief durch. Biene sagt immer, dass man das machen soll, wenn man nicht mehr weiter weiß. Ich ziehe mein argentinisches Handy aus der Hose, um nachzusehen, ob einer der Vorbenutzer Lunas Nummer eingespeichert hat, damit ich mich melden und nachkommen kann. Als ich mich durch all die unbekannten Namen und Telefonnummern klicke, bin ich regelrecht fasziniert von dem Gedanken, wem diese ganzen Nummern wohl gehören mögen. Eingetippt wurden sie vermutlich rotweintrunken von meinen Vormietern und ehemaligen Sprachstudenten in irgendwelchen Kneipen. Das Telefonverzeichnis ist der digitalisierte Beweis dafür, dass man in Buenos Aires sehr wohl Leute kennen lernen und sich mit ihnen verabreden kann. Ein Ziffernschatz von unermesslichem Wert, den ich da in meinen Händen halte. Was wäre, wenn ich einfach mal bei einer Nummer anriefe? Doch was soll ich schon groß sagen, mit meinem Spanisch? Vielleicht drücke ich deswegen auf mensajes und frage den allerersten Frauennamen im Speicher, wie es mit einem Gläschen Wein wäre:
jHola Abuela! Me llamo Peter y estoy nuevo en Buenos Aires. Que te gusta un vino y hablar unpoco? Escribeme!
Ich lege das Handy zurück in den Nachtschrank und ziehe mit dem Finger ein wenig Nutella aus einem Glas. Ich nehme einen zweiten Finger und schließlich esse ich das ganze Glas auf. Es ist meine Art zu sagen: Ich weiß nicht weiter. Denn wenn ich Pedro alleine lasse, wird er wieder seine Selbstmördermusik einschalten und bei einem besonders dramatischen Akkordeonsolo vom Balkon springen, so wie Taxi vor ein paar Jahren. Und wenn ich bleibe, verpasse ich meinen ersten richtigen Ausgehabend in Buenos Aires.
Schweren Herzens und mit noch schwererem Magen kehre ich schließlich zurück ins Wohnzimmer, in dem mittlerweile der Fernseher läuft. Auf dem Bildschirm ist ein junger Mann zu sehen, der angezogen ist wie ein englischer Billardspieler und vor Publikum auf einer schwarzen Bühne einen kleinen, weißen Hund frisiert. Pedro deutet aufgeregt auf den Bildschirm.
»I want to show you about my job!«
Ich frage Pedro, wer der Typ mit dem Hund ist.
»Jose Villareal! World Champion in Animal Hairdressing, he is the best!
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