Return Man: Roman (German Edition)
Glock– eine Kugel hatte er noch– und folgte Wu in die Kirche.
Sie bewegten sich vorsichtig durchs Seitenschiff. Marco behielt aufmerksam die stille Leiche im Blick. Der tote Mann wackelte noch einmal mit dem Kopf, doch das war auch schon alles. Die Männer gingen an den Bankreihen vorbei nach vorn. Marco richtete die Glock auf jede Reihe– er rechnete mit einem Hinterhalt und befürchtete, dass ein toter Pastor oder eine Nonne zischend unter den Gesangbüchern hervorsprangen.
Am Rand der ersten Reihe blieben sie stehen.
» Heilige Scheiße«, murmelte Marco.
Es war eine ältere Leiche, ein Mann in den Siebzigern. Die Gesichtshaut war lose und schlackerte wie eine schlecht sitzende Maske. Die Knollennase wurde von purpurroten Adern durchzogen. Die Leiche trug eine gestreifte Krawatte mit einem dicken Knoten über einem blutverschmierten Hemd. Die Hosenbeine waren an den Waden ausgebeult; schwarze Socken hingen über den zerfressenen Businessschuhen und gaben den Blick auf zwei milchig-weiße, haarige und spindeldürre Unterschenkel frei, die kaum bis zum Boden reichten.
Neben der Leiche lag ein Gehstock aus Aluminium.
Die toten Augen der Leiche waren auf das Kreuz hinter dem Altar gerichtet. Die ausgetrockneten Lippen berührten sich mit einem schmatzenden Geräusch, und der Kopf wackelte erneut. Sie drehte sich nicht einmal um, als Wu sprach.
» Was macht sie da?«, fragte er.
Marco spürte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. » Ich… Ich glaube, dass sie vielleicht betet.«
Wu musterte Marco kurz. » Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.«
» Also, ich meine, eigentlich betet der Mann nicht– aber er verharrt in dieser Stellung. Er muss ein religiöser Mensch gewesen sein. Die Kirche war sehr wichtig für ihn. Emotionale Geografie.«
Wu starrte ihn an. » Emotionale Geografie?«
» Schon gut, das ist eine lange Geschichte«, beschied Marco ihm. » Die Kurzfassung lautet, dass diese Leiche aus dem gleichen Grund hier ist, weshalb Roger Ballard dort ist, wo auch immer er sein mag.«
Wu betrachtete die wie erstarrt dasitzende Leiche. » Will sie uns denn nicht fressen?«
» Ich weiß nicht. Sollte man eigentlich meinen. Aber… vielleicht ist ihr das wichtiger.«
Das darf doch nicht wahr sein, dachte Marco. Was rede ich denn da?
Diese Leiche soll eine höhere Berufung gefunden haben?
Er hatte das Bedürfnis zurückzurudern. » Auf jeden Fall sollten wir ihr nicht die Hand in den Mund stecken. Ich schlage vor, dass wir uns ein paar Reihen zurückziehen und sie von dort aus beobachten.«
Wu nickte. » Ja.«
Sie schlichen durch das Seitenschiff zurück und setzten sich auf die letzte Bank.
Die Hunde draußen waren hartnäckig; die ganze Kapelle hallte von unablässigem Winseln und dem gelegentlichen Knurren miteinander kämpfender Tiere wider. Und alle paar Sekunden war ein Kratzen an der Holztür zu vernehmen.
» Warum machen wir es uns nicht gemütlich«, sagte Wu. » Könnte sein, dass wir eine Weile hier festsitzen.«
» Hoffentlich nicht zu lang. Wir hätten nämlich ein Problem, falls auch noch der Rest der Kirchengemeinde hier auftaucht.«
Sechs Reihen vor ihnen in der Dunkelheit zitterte die alte Leiche in ihrer Nachahmung eines Gebets, und Marco stellte sich eine Frage: Falls Gott wirklich existierte, was zum Teufel dachte Er sich bei alledem?
9 . 7
» Das ist ein schlechter Witz«, fand Marco. Er saß neben Wu auf der muffigen Holzbank, hatte die Hände im Schoß gefaltet und die Beine an den Fußknöcheln übereinandergeschlagen. Das Licht, das durch die bunten Scheiben fiel, war um ein paar Stufen heller geworden; die Sonne hatte schließlich doch über die Wolken gesiegt. Marco schätzte, dass es jetzt gegen Mittag war. Sein Magen knurrte wieder– ein Protest, der peinlich laut in der stillen Kapelle widerhallte.
Er drückte eine Hand auf den Bauch und fuhr fort: » Ein Brocken toten Fleisches, der eine große Gipsstatue von Jesus anbetet. Ohne die Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, dass das sein Leben nach dem Tod ist und dass sein Gott eine Illusion ist.«
» Aus Ihrem Ton schließe ich, dass das Ihre pauschale Beurteilung aller Religionen ist«, sagte Wu.
Marco lachte freudlos. » Ja. Genau.«
» Sie glauben nicht an Gott.«
» Nicht unbedingt.«
» Ich dachte, Sie würden gequälten Seelen Frieden bringen. Ist das denn nicht Ihr Handwerk?«
Ein bitteres Lächeln huschte über Marcos Gesicht. » Das ist Marketing, mein Freund. Wohlfeile Worte, um eine Dienstleistung
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