Return Man: Roman (German Edition)
zu verkaufen. Ich bezweifle, dass die Leichen ’nen Scheiß drauf geben.« Und er bereute diese Worte sofort bitter. Denn vor seinem geistigen Auge war plötzlich ein Bild von Danielle erschienen– ausgezehrt, mit eingefallenem Gesicht, auf einem unbekannten höllischen Leidensweg, mit herausgerissenen Eingeweiden und vom Drang gequält, rohes Fleisch zu essen…
Er schloss fest die Augen und löschte das Bild aus dem Bewusstsein. Lichtschlieren tanzten hinter seinen geschlossenen Lidern. Irgendwo in diesen amorphen Gebilden hörte er noch immer den Reiter -Soldaten schreien.
Ob Danielle jemals einen Menschen so brutal abgeschlachtet hatte?
Er zuckte entsetzt zusammen und öffnete blinzelnd die Augen. Er wurde sich bewusst, dass der Morgen ihn deprimiert und ihm einen kräftigen spirituellen Tritt in den Arsch versetzt hatte. Er hatte starke Schmerzen in der Brust, als wäre Hannahs Grabstein auf ihn gefallen und würde sein Herz erdrücken.
Er wurde sich bewusst, dass Wu ihn neugierig ansah.
» Entschuldigung«, sagte Marco. » Ich hab heute irgendwie einen schlechten Tag.«
Die Männer warteten vor der Geräuschkulisse der bellenden Hunde hinter den Butzenscheiben. Es vergingen fünf Minuten, dann zehn. Wus Atmung wurde langsam und gleichmäßig, und Marco glaubte schon, er wäre in den Schlaf abgeglitten; soweit er wusste, hatte der Sergeant seit zwei Tagen nicht mehr geschlafen.
» Ich entstamme einer chinesischen Familie«, begann Wu dann stockend und bedächtig, als ob ein unausgesprochener Gedanke die Worte begleitete. » Einer traditionsbewussten Familie. Am Tag meiner Geburt hat man mir keinen Namen gegeben. Mein Onkel Bao Zhi hatte meinen Geschwistern gesagt, dass sie mich nur als ein › Tier‹ bezeichnen sollten. Nicht etwa, weil er ein grausamer Mensch gewesen wäre– er liebte mich sehr–, sondern um mit diesem Trick böse Geister zu täuschen, von denen man glaubte, dass sie Neugeborene entführen würden. Als ich ein paar Wochen alt war, ehrte er mich mit dem Namen meines Vaters, Kheng Wu, der noch vor meiner Geburt gestorben war. Als Kind sagte man mir dann, dass meine Leistungen in diesem Leben den Geist meines Vaters erfreuen würden.«
Der Sergeant hob den Kopf und studierte eingehend die Abbildungen der Heiligen und die Wunder, die auf den Butzenscheiben der Kapellenfenster verewigt waren. Marco wartete. Er war sich nicht sicher, was Wu ihm überhaupt mitteilen wollte. Wu schien seine Unsicherheit zu spüren.
» Worauf ich hinauswill, Doktor«, fuhr Wu fort, » ist, dass die Toten wirklich › nen Scheiß darauf geben‹, wie Sie es ausdrücken. Die Kultur meines Onkels hat ein anderes Verhältnis zum Tod als die Amerikaner. Die traditionsbewussten Chinesen glauben, dass die Toten und die Lebenden gemeinsam existieren– Seite an Seite auf ein und derselben Ebene und nicht etwa in strikt getrennten Sphären wie euer Himmel und eure Hölle. Unsere Toten sind nicht von uns gegangen. Sie weilen buchstäblich unter uns; auch wenn sie nur Geister sind, haben sie dennoch körperliche Bedürfnisse.«
» Bedürfnisse?«
Wu nickte. » Als Kinder haben wir sie mit Essen und Wasser versorgt, haben ihnen Zahnbürsten und Kämme hingelegt und › Geister-Geld‹ verbrannt und in der Luft verstreut, damit sie es einsammeln und sich dafür etwas kaufen konnten. Wenn mein Onkel Bao Zhi noch leben würde– er ist vor ein paar Jahren gestorben–, könnte er uns das erklären. Er würde uns vielleicht sagen, dass in den Evakuierten Staaten die Geister auch körperliche Gestalt angenommen haben. Lebende Tote. Das ist beängstigend, aber wir müssen ihnen trotzdem Respekt erweisen. Weil die Toten unsere Verbindung zu Gott sind.«
Marco kniff sich nachdenklich in das vom Hundebiss gezeichnete Ohr.
Geister in einer körperlichen Gestalt …
» Zu welcher Schlussfolgerung gelangen Sie also?«, fragte er stirnrunzelnd. » Dass die Auferstehung eine Art chinesisches Leben nach dem Tod sei? Dass wir die Toten ehren sollen, indem wir uns von ihnen auffressen lassen?«
Wu schüttelte missbilligend den Kopf. » Sie haben mich falsch verstanden, Doktor. Ich behaupte gar nicht, die Auferstehung zu verstehen. Ich wollte Ihnen nur versichern, dass es hier auf Erden Geister gibt, richtige Geister. Manche bleiben unsichtbar, wie es seit jeher ihre Art war, und manche sind nun in verwesenden Körpern unterwegs– welchen Zweck auch immer das Universum damit verfolgt.«
» Deshalb«, fügte er hinzu und spannte
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