Return Man: Roman (German Edition)
ruhiggestellt und vergessen hat, als das Gefängnis gestürmt wurde.«
Marco schüttelte den Kopf. » Ich habe noch nie einen Patienten mit einer Infusion im Kopf gesehen. Jedenfalls nicht so.«
» Wie dann?«
Marco schluckte mühsam, ignorierte die Frage und ging weiter den Korridor entlang. Das Unbehagen, das sich schon die ganze Zeit in ihm aufgestaut hatte, ergriff nun völlig von ihm Besitz. Der üble Gestank im Flur wurde noch schlimmer; er stellte sich vor, wie er sich durch einen Tunnel aus Bakterien, Eiter und verfaultem, von Maden befallenem Fleisch wühlte. Er hörte auch in anderen Zellen Bewegung– klimper, klimper –, doch er warf keinen Blick mehr hinein. Das musste wirklich nicht sein.
Er wusste auch so schon Bescheid.
Ihm traten Tränen in die Augen– wegen des Gestanks, versuchte er sich einzureden. Es ist alles in Ordnung. Geh einfach weiter. Er lief an drei weiteren Zellen vorbei. Vorne bog der Korridor wieder nach links ab.
Er atmete tief durch, um sich für den Anblick zu wappnen, mit dem er vielleicht gleich konfrontiert würde, und bog um die Ecke.
Noch mehr Zellen, die sich vielleicht auf einer Länge von etwa dreißig Metern durch die Finsternis zogen. Dunkle, verschlossene Türen.
Bis auf die letzte Tür, die Zelle ganz hinten am Ende des Korridors. Sie stand offen. Gelbes Licht drang aus der Türöffnung und tanzte auf dem Boden.
Los geht’s, sagte Marco sich. Seine Hand zitterte, und er wurde sich bewusst, dass seine Finger sich um den Griff der M9 verkrampft hatten. Das Herz schien irgendwo außerhalb seiner Brust zu schlagen; irgendwie hatte es sich selbstständig gemacht und galoppierte nun den Gang entlang.
» Seien Sie vorsichtig«, flüsterte Wu.
» Ich gebe mir Mühe«, sagte Marco. Er ging langsam weiter, doch seine Schritte waren immer noch zu laut– obwohl es darauf auch nicht mehr ankam. Damit würde er niemanden täuschen können.
Gefolgt von Wu ging er angespannt und in banger Erwartung den Gang entlang.
Sein letzter Gang. Sagten das nicht immer Wärter in Knaststreifen, wenn sie jemanden in die Hinrichtungszelle geleiteten? Marco war zum Lachen zumute. Hier hatten allzu viele den letzten Gang angetreten. Und war da nicht auch immer ein Priester, der mit ernster Mine aus der Bibel vorlas?
Und wenn ich auch wanderte durchs Tal der Todesschatten …
Er erreichte die Grenze des Lichtkegels, die offene Tür, und atmete noch einmal durch.
Dann trat er ins Licht.
Er hatte schon mit der Stimme gerechnet, die ihn begrüßte.
» Hallo, Henry.«
Marco rang sich ein Lächeln ab.
» Hallo, Roger.«
Abschieds-geschichten
12 . 1
Roger Ballard. Nicht tot. Auch nicht auferstanden.
Roger Ballard– wie er leibt und lebt.
Er saß aufrecht auf der Kante eines akkurat gemachten Gefängnisbettes und hatte die Hände auf den Knien liegen. Er sah wie aus dem Ei gepellt aus, mit gestärktem Hemd und blauer Krawatte. Er reagierte auf die Begegnung mit Marco hier und jetzt, nachdem sie sich in fünf höllischen Jahren einander entfremdet hatten, genauso entspannt, als hätten sie sich erst gestern zum Essen getroffen. Er hatte sein kastanienfarbenes Haar wie immer zurückgekämmt, nur dass es ihm nun bis auf die Schultern fiel. Er sah alt aus; viel älter als die vierzig Jahre, die er eigentlich war. Sein Gesicht war eingefallen und kündete von starker Unterernährung; die Haut klebte ihm wie Schrumpffolie am Schädel, die Wangenknochen traten stark hervor, und die Augen lagen tief in den Höhlen.
Rogers Anblick traf Marco wie ein plötzlicher Schlag in die Magengrube; zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen erinnerte er sich an seinen letzten Morgen am Cedars-Sinai, bevor er mit Danielle nach Arizona aufgebrochen war. Auf dem letzten Gang zur Parkgarage war er an Rogers Büro vorbeigekommen und hatte sich geschworen, auf keinen Fall hineinzuschauen… aber dann hatte er doch einen Blick hineingeworfen, und da hatte Roger an seinem Schreibtisch gesessen und auf die Tür gestarrt, als wüsste er irgendwie, dass Marco genau in diesem Moment vorbeikommen würde. Auf Wiedersehen, Henry, hatte Ballard gesagt, doch Marco hatte ihn einfach ignoriert und war weitergegangen– hatte sich dabei hundeelend gefühlt, hatte sich gefragt, ob Roger ihm vielleicht folgte, und war dann froh gewesen, dass er es nicht getan hatte. Das Bild war seit einem halben Jahrzehnt in Marcos Gehirn eingebrannt– wie Roger verloren in seinem tristen kleinen Büro saß. Und nun hatte Roger
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