Return Man: Roman (German Edition)
gelangte–, doch er hatte nun genug riskiert. Marco musste zusehen, wie er klarkam.
Ein Lichtkegel strich über seine Schulter und tanzte an den Wänden. Der tote Schaffner war wieder auf den Beinen, und der Reflektor der Taschenlampe ragte wie eine Leuchtboje aus seinem Mund.
Wu zog die Mandarinenten-Haken und sprang auf einen Tisch in der Nische neben ihm; von dort sprang er zur nächsten Nische, auf den nächsten Tisch und umging auf diese Weise die Leichen im Gang. Sein Ziel war die offene Tür am nördlichen Ende des Speisewagens. Er wollte zum Maschinenraum.
Der eigentliche Grund, weshalb er den Zug bestiegen hatte. Nicht die Lüge, die er dem Amerikaner aufgetischt hatte.
Wu wollte die Lokomotive.
Vor der dunklen Türöffnung hielt er kurz inne und schaute in den nächsten Waggon. Der Salonwagen. Ohne die Taschenlampe sah er kaum etwas, doch er spürte weder eine Bewegung noch hungrige Schemen. Er stieg über den Haufen von Leichen hinweg und lief zielstrebig durch den Waggon. Die Tür am anderen Ende war offen, und helles Sonnenlicht zeigte ihm den Weg in den nächsten Waggon. Ein Personenwagen mit zertrümmerten Fenstern. Hinter sich, irgendwo tiefer, hörte er Feuerstöße aus einer Schusswaffe.
Die Kalaschnikow. Marco.
Wu sprintete durch den Personenwagen– und blieb in der Mitte stehen.
Durch die Fenster sah er eine Masse aufgebrachter Leichen, die zu beiden Seiten des Zuges ausschwärmten. Zwanzig Meter weiter hinten auf der Düne wurde der Jeep ebenfalls von Leichen umringt– es glich einer Invasion, wie sie in das Fahrzeug hineinkrochen und die Sitze zerfetzten. Als hätten sie einen Geruch von Leben wahrgenommen, eine Spur, die Marco und Wu hinterlassen hatten. Und dann sah Wu, wie der Jeep auf dem losen Sand ins Rutschen geriet. Allzu viele Leichen hatten sich in den Wagen gezwängt und belagerten ihn von außen, sodass er nun umkippte und sich zweimal überschlug. Eine stöhnende orangefarbene Kugel aus Metall und gebrochenen, schlenkernden Gliedmaßen und zerquetschten Leibern rollte zum Fuß der Düne hinunter.
Wu erinnerte sich an Marcos Warnung. Zornige Hornissen. Der Amerikaner hatte recht gehabt– doch das spielte nun keine Rolle mehr. Den Jeep konnten sie vergessen.
Ohne zu zögern, lief er durch den nächsten Personenwagen bis zur letzten Tür. Zum Maschinenraum. Die Tür stand einen halben Meter weit offen; er rammte die Schulter in die Lücke, erweiterte sie etwas und schlüpfte hindurch.
Und erweckte die Lokomotive wieder zum Leben.
Nun nahm Wu den Rucksack ab und ließ ihn auf den Boden fallen. Er fühlte sich plötzlich leicht wie eine Feder, wo er von der Last der ganzen Ausrüstung befreit war. Ein paar Waggons hinter sich hörte er wieder einen Feuerstoß von der AK -47. Marco. Der Doktor lebte noch und war wieder auf der oberen Etage. Wus Schultern entspannten sich. Mit gelindem Erstaunen gestand er sich ein, dass Marcos Überleben doch von Vorteil war; zumindest, bis der Auftrag erledigt war. Die Instinkte des Arztes schienen wirklich nützlich zu sein.
Und natürlich wollte Peking Marco auch lebend haben.
Noch ein Weilchen länger.
Vor der Frontscheibe erstreckten sich Dünen in sandigen Wellen bis zum Horizont. Vor anderthalb Jahrhunderten hatten arme chinesische Arbeiter die erste transkontinentale Eisenbahn durch diese westlichen Wüsten verlegt. Sie waren mit Billigung der amerikanischen Regierung zu Tausenden krepiert, hatten für Sklavenlöhne geschuftet, nur um dann abgestoßen zu werden, nachdem die Eisenbahnstrecke fertiggestellt worden war. Man hatte sie aus der Gesellschaft der Weißen ausgeschlossen, ihnen die amerikanische Staatsbürgerschaft verweigert und sie voller Hass als » Kulis« verächtlich gemacht und gebrandmarkt. Das bewegte Wu. Er hoffte, dass die Geister dieser Chinesen ihn nun sahen; er hoffte, dass sie eine späte Ehrung erfuhren und Zeuge wurden, wie die mit ihrem Blut getränkten Schienen ihn auf einer Mission voranbrachten, um dem Heimatland zu dienen.
Der Sunset Limited hatte sich schon fast einen Kilometer von der Stelle entfernt, wo Wu und Marco eingestiegen waren. Im Rückspiegel sah Wu, wie die tobenden Leichen immer weiter zurückfielen und in der Wüste schrumpften, bis sie sich nicht mehr von den Kakteen oder Felsen unterschieden. Der umgekippte Jeep war auch nur noch ein kleiner Punkt, der schließlich ganz verschwand.
Marcos Ausrüstung und Vorräte waren mit ihm verschwunden.
Wu verzog das Gesicht zu einem Lächeln.
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