Return Man: Roman (German Edition)
zum Rand der Wüste gehen und in den Kosmos springen. Das war ein ganz anderes Gefühl als in LA , wo das permanente Glühen der Lichter der Stadt die Sterne überstrahlte und das Universum ausblendete.
Hier draußen in der unbesiedelten Wüste verlor man die Menschen und gewann die Sterne zurück. Vor langer Zeit, vor der Auferstehung, hatte Marco das für eine gute Sache gehalten.
Doch nun…
Nun wären ein paar Menschen mehr vielleicht doch ganz schön.
Der Zug fuhr schnaufend durch die Nacht und fraß sich Kilometer für Kilometer durch die Wüste Südkaliforniens. Marco wandte den Blick vom Fenster ab. Er hatte die ganze Zeit steif und verkrampft auf dem Boden der Lokomotive gesessen. Er zog die Beine an die Brust und legte den Kopf auf die Knie, dann setzte er sich wieder auf. Er war so erschöpft, dass der Schlaf sich nicht so schnell einstellen wollte. Wenigstens hatte er eine ordentliche Mahlzeit gehabt, bevor er sich hinlegte. Karottensuppe aus der Dose. Kalt und breiig, aber immer noch besser als zum x-ten Mal dieses Trockenfleisch. Er und Wu hatten die Vorräte problemlos aus der Küche geholt; Marco hatte beim ersten Vorstoß in die Küche ganze Arbeit mit der AK -47 geleistet, sodass die Leichen, die sie noch sahen, als reglose Haufen auf dem Boden lagen. Nur um sicherzugehen, hatte er die verrostete Tür an der Rückseite des Speisewagens geschlossen; der Riegel war mit einem lauten beruhigenden Quietschen eingeschnappt. Falls sich jetzt noch jemand in den hinteren Waggons versteckte, würde er auch dortbleiben.
In der Lokomotive war Wu der Herr des Führertischs. Er hatte das Licht gedimmt und hob sich in der nächtlichen Dunkelheit wie eine Verlängerung der Bedienelemente als Silhouette gegen das Fenster ab. Seine Hand schien förmlich mit dem Fahrschalter zu verschmelzen. Falls der Sergeant müde war, ließ er sich nichts anmerken. Er saß unverrückbar und aufrecht auf dem Hocker, als wäre er damit verschraubt, das Kinn energisch nach vorn geschoben. Er hatte sein blutverschmiertes Uniformhemd ausgezogen. Darunter trug er ein weißes Tanktop, das die Statur eines austrainierten Kampfsportlers enthüllte– schlank und muskulös. Die Schultern wurden von blassen langen, schmalen Narben verunstaltet; sie erinnerten an Striemen von Peitschenhieben. Marco hatte davor zurückgescheut, ihn zu fragen, wie er sich diese Narben zugezogen hatte.
Kurz nach Sonnenuntergang hatte Wu den Zug auf Schleichfahrt verlangsamt. » Es wäre nicht ratsam, mitten in der Nacht in Los Angeles County einzutreffen«, hatte er ihm erklärt. » Wir lassen uns Zeit und verringern das Tempo. Bei dieser Geschwindigkeit werden wir nach der Morgendämmerung dort ankommen.«
Also konnten die beiden Männer sich fürs Erste entspannen. Sich zurücklehnen und ein Nickerchen machen.
Das habe ich auch bitter nötig. Marco schloss die Augen. Sein Körper schwankte, und die Schultern gaben unter dem schweren Kopf nach, als die Lokomotive ihn sanft wie eine Mutter in den Schlaf wiegte. Er und Wu hatten vereinbart, abwechselnd zu schlafen. Jeder zwei Stunden. Während der eine schlummerte, passte der andere auf und achtete auf das Warnsystem des Zugs– den » Totmann-Schalter«, wie Wu ihn nannte. Ein Sicherheitsmechanismus, der den Zug stoppte, wenn der Lokführer länger als fünfundzwanzig Sekunden nicht reagierte. In der Dunkelheit hörte Marco ein leises Klingeln und ein Klick, als Wu die Sicherheitsfahrschaltung aktivierte. Unter ihm rollten die Räder des Zugs in einem monotonen Takt über die Schienen– wie in einem endlosen Heavy-Metal-Wiegenlied.
Kalifornien, sagte er sich im Halbschlaf. Dort war er einmal sehr glücklich gewesen. Er und Danielle in Kalifornien. Bevor alles den Bach runtergegangen war.
Ob alles vielleicht anders gekommen wäre?, fragte er sich. Wenn wir geblieben wären?
Wenn wir geblieben wären. Seine Gedanken sprangen im Rhythmus der Schienenstöße.
Wenn wir geblieben wären. Wenn wir geblieben wären.
Aber sie waren nicht geblieben. Sie waren nach Arizona geflohen, weil sie sich dort eine bessere Zukunft erhofften. Und er gehörte nicht mehr hierher, hierher nach Kalifornien. Er war ein Eindringling, der nachts durch ein offenes Fenster einstieg. Sein Herz schlug laut hinter den Rippen, als würde es Alarm auslösen.
Den ersten Herzschmerz hatte er direkt hinter Yuma verspürt, gleich auf der anderen Seite des Colorado River. Der Zug hatte Arizona schließlich verlassen und wurde an der
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